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Hilfe auf Rädern – das ist Lateinamerikas erfolgreichstes Start-up

Das kolumbianische Einhorn Rappi will auf seiner Plattform mehrere Dienste anbieten – bis hin zum Bezahlen. Die Politik hilft der Firma – trotz Protesten.

Manchmal muss man eine Weile tüfteln, bis man auf die richtige Idee kommt. Erfindern geht das so, und Jungunternehmer im Start-up sind ja in gewisser Weise auch Erfinder. Der Kolumbianer Simón Borrero zum Beispiel hat schon als 17-Jähriger sein erstes Unternehmen gegründet, sich dann an der Uni an weiteren drei Firmen versucht.

Darunter war eine Online-Modelagentur, auf deren Plattform sich 3500 junge Frauen registrierten. Aber Borrero konnte keiner einen Job vermitteln. „Also gingen wir pleite“, sagt er gelassen und ergänzt: „Es ist wichtig, jung anzufangen und sich von Misserfolgen nicht abschrecken zu lassen.“

Heute ist Borrero mit seinen 35 Jahren immer noch jung, aber inzwischen maximal erfolgreich. Er ist einer der gehyptesten Unternehmer Kolumbiens und hat mit seinem E-Commerce-Unternehmen Rappi längst über die Grenzen des südamerikanischen Landes hinaus großes Interesse geweckt. Ende April investierte der japanische Konzern Softbank als bisher letzter Kapitalgeber über seinen Technologiefonds Vision Fund eine Milliarde Dollar in das Unternehmen und machte die Plattform damit zum Einhorn.

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Noch arbeitet Rappi, dessen Name sich vom spanischen Wort für schnell („rápido“) ableitet, nicht rentabel, aber die Marktbewertung liegt dennoch bei rund 3,5 Milliarden Dollar. Experten halten Rappi, das Borrero mit zwei Freunden gegründet hat, für eines der interessantesten Start-ups Lateinamerikas.

Das Unternehmen wurde 2015 gegründet und wächst seither von Monat zu Monat fast um 20 Prozent. Mittlerweile hat die Plattform mehr als 13 Millionen Nutzer, und Rappi ist in acht Ländern Lateinamerikas aktiv. „Jedes halbe Jahr verdoppeln wir unseren Umsatz“, sagt Juan Sebastián Ruales im Gespräch mit dem Handelsblatt.

In den Worten des Marketingdirektors für Lateinamerika schwingt hörbarer Stolz, aber auch ein bisschen Respekt vor dem großen Erfolg mit. Helfer bei dem Umsatzwachstum waren Venture-Capital-Geber wie DST Global, lY Combinator, Sequoia sowie Andreessen Horowitz. Auch der in Berlin ansässige Online-Bestellplattformenbetreiber Delivery Hero hat bei den Kolumbianern investiert.

So sammelte Rappi schon kurz nach Gründung 400 Millionen Dollar ein, die halfen, neue Projekte zu entwickeln. „Das hat uns sehr auf die Sprünge geholfen auf dem Weg zu dem, was wir bald sein wollen: die Super-App“, betont Marketing-Direktor Ruales. Rappi hat klein angefangen. Das Unternehmen startete in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá als klassischer Lieferdienst wie Deliveroo oder Uber Eats.

Mittlerweile gehören die Radler oder Motorradfahrer mit dem sperrigen orangefarbenen Rappi-Rucksack in 50 Städten Lateinamerikas zum Straßenbild und sind bisweilen vor allem in den Metropolen Bogotá, Mexiko-Stadt oder auch Buenos Aires geradezu ein Ärgernis für Anwohner und Verkehrsteilnehmer geworden.

Service für alles und jeden

Das E-Commerce-Unternehmen wuchs aber schnell über das simple Konzept hinaus, Essen von einem Restaurant zu einem Besteller zu bringen. Das Geheimnis von Rappi war es zunächst, für die Nutzer der App alle möglichen einfachen Dienstleistungen zu erledigen. Die „Rappitenderos“, die Ausfahrer, gehen einkaufen, holen aus der Apotheke Medikamente, kaufen Konzertkarten, führen den Hund spazieren, spielen schon mal auf der Playstation mit einem Nutzer, wenn ihm der Mitspieler fehlt.

„Ich habe auch schon Kondome ausgeliefert“, sagt ein Rappi-Fahrer in Mexiko-Stadt. Rappi sei „wie die Tante oder der Freund, die Tag und Nacht bereitstehen, dir einen Gefallen zu tun oder aus einer Klemme zu helfen“, beschrieb Gründer Borrero einmal die Idee. Die Weiterentwicklung des Angebots habe dabei in Zusammenarbeit mit den Nutzern stattgefunden. Über eine Funktion auf der App hätten sich die User mit unzähligen Vorschlägen gemeldet.

Das kolumbianische Unternehmen sieht sich dabei aber keineswegs als Arbeitgeber, sondern als Vermittler. „Wir bringen Menschen zusammen, die alles haben außer Zeit, mit denjenigen, die Zeit haben und sich Geld dazuverdienen wollen“, sagt Marketingdirektor Ruales. Seine Fahrer bezeichnet er als „unabhängige Unternehmer“. In Rappis Führungsetage wiederholt man diese Auffassung wie ein Mantra.

Allerdings sehen das viele der mittlerweile 85.000 „Rappitenderos“ ganz anders. In Bogotá und Mexiko-Stadt gab es wiederholt Proteste wegen fehlender Sozialleistungen und harter Konditionen. So müssen die Fahrer beispielsweise die Rappi-Rucksäcke für umgerechnet rund 30 Euro beim Unternehmen kaufen.

In Buenos Aires musste Rappi seinen Service zwischenzeitlich einstellen, weil das Unternehmen die argentinischen Gesetze zur Versicherungspflicht der Fahrer unterlief. In Kolumbien hat die Verbraucherschutzbehörde entschieden, dass Rappi nicht nur Geschäfte anbahnt, sondern Teil des gesamten Kaufprozesses ist. Allein in Kolumbien sind in weniger als einem Jahr mehr als 700.000 Beschwerden gegen die Geschäftspraktiken von Rappi bei den Verbraucherschützern eingegangen.

Zudem ermittelt die Behörde wegen irreführender Werbung, unfairer Geschäftspraktiken und fehlenden Datenschutzes. Außerdem beschweren sich die Fahrer immer wieder über die niedrige Bezahlung. Ein „Rappitendero“, der mit dem Fahrrad ausfährt, kommt in Bogotá auf rund drei Euro pro Stunde und liegt damit unter dem Mindestlohn.

Experten wie der Anwalt Pablo Márquez geben zu bedenken, dass ein Teil der juristischen Probleme in der Natur der Sache liege. „Rappi und ähnliche Start-ups wachsen so schnell und so anders als herkömmliche Unternehmen, dass die rechtliche Architektur darauf nicht passt“, meint Márquez, der früher Direktor der kolumbianischen Telekommunikations-Regulierungsbehörde CRC war.

Über die Probleme mit Behörden und Fahrern will das Unternehmen nicht sprechen. Marketingchef Ruales erzählt lieber, worin der große Erfolg der Bestellplattform liegt. „Wir befriedigen ein Bedürfnis, das in den vergangenen Jahren in den großen Städten Lateinamerikas entstanden ist.“ Zum einen wachse eine Mittelklasse mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten heran.

Dazu steige die Durchdringung mit mobilem Internet. Dritter Erfolgsfaktor sei in gewisser Weise das Verkehrschaos der großen Metropolen Lateinamerikas. „Wir befreien die Menschen aus einem Dilemma“, sagt Ruales. „Sie brauchen nicht vor die Tür, können mit ihren Kindern spielen, während wir liefern, was sie brauchen.“ Der Markt habe großes Wachstumspotenzial. „Der Anteil des E-Commerce am Handel liegt in Lateinamerika gerade bei fünf Prozent“, versichert Ruales. Zudem habe sein Unternehmen den elektronischen Handel „demokratisiert“. „Wir erlauben das Zahlen in bar, denn es gibt noch immer viele Menschen in Lateinamerika, die keinen Zugang zu einer Kreditkarte haben.“

Aber daraus macht das Unternehmen in seinem Bestreben, die „Plattform der Plattformen“ zu werden, gleich ein neues Geschäftsmodell. „Wir sind dabei, RappiPay aufzubauen, damit die Menschen auch über uns ihre finanziellen Dinge abwickeln können“, unterstreicht Ruales. Als Vorbild dient ihm das chinesische Alipay. Rappi will erreichen, dass seine Kunden über die App künftig ihre Steuern sowie die Strom- und Wasserrechnungen zahlen.

Eine Kooperation mit der Bank Davivienda ist unter Dach und Fach. Eine Allianz mit dem mexikanischen E-Scooter-Verleiher Grin hat Rappi schon erreicht: Dessen Kunden können nun auch über die Rappi-App die Roller anmieten. Grin ermöglichte das, in andere Städte und Länder Lateinamerikas zu expandieren. „Wir wollen, dass unsere App die Plattform wird, über die du dein ganzes Leben organisierst“, betont Gründer Borrero.

Inzwischen schielen die Kolumbianer auch auf Firmenkunden. Dafür experimentieren sie seit Ende August in Chile mit einem Paketdienst. Bei „RappiEntrega“ kann der Besteller sich seine Ware in einer kleinen Zeitspanne, die er selbst festlegt, liefern lassen, ohne dabei wie bei den Marktführern mitunter den ganzen Tag zu Hause oder im Büro angebunden zu sein. „Rappi soll perspektivisch das wichtigste Tech-Unternehmen Lateinamerikas werden“, formuliert Borrero einen hohen Anspruch.

Gutes politisches Umfeld

In der Heimat finden die Kolumbianer dafür gute Bedingungen. Die Regierung des konservativen Präsidenten Iván Duque fördert speziell die digitalen Start-up-Unternehmen. „Der Staat legt Investitionsfonds auf und bietet Steuererleichterungen“, lobt Juan Sebastián Ruales. Ganz Lateinamerika biete gute Konditionen, da die Region nur bei digitalen Unternehmen schnell gegenüber den Industriestaaten aufholen könne, aber Kolumbien rage durchaus heraus. Nach einer Untersuchung der spanischen Bank BBVA von Ende Oktober 2018 gibt es 13 lateinamerikanische Einhörner. Fünf kommen aus Brasilien, vier aus Argentinien, zwei aus Mexiko und je eines aus Kolumbien und Chile.

Aber so gut wie alle dieser Einhörner teilen ein Problem: Sie machen Verluste trotz hoher Umsätze. Das gilt auch ganz besonders für Rappi. Im zweiten Jahr nach der Gründung standen Einnahmen von 1,9 Millionen Dollar Verluste von sechs Millionen Dollar gegenüber. Vergangenes Jahr beliefen sich die Einnahmen auf 24,2 Millionen Dollar, denen fast 49 Millionen Dollar an Verlusten gegenüberstanden. Seit Gründung haben sich die Verluste von Rappi damit auf knapp 75 Millionen Dollar angehäuft.

Die Chefs beunruhigt das kaum. Es liege vielmehr in der Natur der Sache. „Es liegt an der raschen Expansion und der Erschließung neuer Geschäftsfelder“, versichert Simón Borrero. Man wolle derzeit noch gar keinen Gewinn machen, sondern alle Mittel in die Vergrößerung stecken. „Die Menschen denken, Rappi sei schon ein etabliertes großes Unternehmen, aber das Gegenteil ist der Fall: Wir fangen gerade erst an“, betont Borrero. „Wir streben an, dass es irgendwann an jeder Ecke Lateinamerikas einen Rappitendero gibt.“

Dafür setzen die Kolumbianer auf eine aggressive regionale Expansion. „Wir wollen in noch mehr Länder und noch mehr Städte“, versichert der Lateinamerika-Marketingchef Ruales. Jüngstes Land, in dem die sperrigen orangefarbenen Rucksäcke durch die Städte fahren, ist Costa Rica.

Eine Ausbreitung außerhalb des Subkontinents plant Rappi für den Moment nicht. Aber einen großen Traum haben die kolumbianischen Jungunternehmer dann doch noch: Ende 2020 will Rappi in den USA an der Technologiebörse Nasdaq gelistet sein. Man wird ja noch mal träumen dürfen.

Als Einhorn bezeichnet die Gründerszene junge Unternehmen, die mit mindestens einer Milliarde Dollar bewertet werden. Weltweit ziehen immer mehr Gründungen Risikokapital an. Die Handelsblatt-Korrespondenten haben Einhörner in ihrem Berichtsgebiet herausgesucht, deren Entwicklung sie besonders beeindruckt. Sie schildern zudem, wie die Bedingungen für aufstrebende Unternehmen und Investoren in ihrem jeweiligen Land sind.

Im aktuellen Teil der Serie stellt Korrespondent Klaus Ehringfeld das kolumbianische Start-up Rappi vor. In der kommenden Woche berichten unsere Korrespondenten über die chinesische Start-up-Szene.