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Deutschlands politische Mitte kippt im Zangengriff der Extreme

(Bloomberg) -- Die Sonne scheint, Bratwürste liegen auf dem Grill und mehrere hundert Einwohner eines ostdeutschen Kurortes haben sich um eine mit blauen Bannern geschmückte Bühne versammelt. Unweit davon verwandeln sich Kindergesichter mit viel Schminke in Tiere und Clowns.

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Ein Sommerfest wie jedes andere, wären da nicht die gut ausgerüsteten Polizisten, die rund 150 Demonstranten in Schach halten.

Die rufen auf dem Marktplatz im thüringischen Bad Salzungen lautstark Parolen wie „Nazis raus“ und versuchen so, eine Wahlkampfveranstaltung der Alternative für Deutschland (AfD) zu stören. Solche Konfrontationen sind in der zunehmend antagonistischen politischen Landschaft des Landes zur Routine geworden.

In Thüringen wie in Sachsen wird am Sonntag ein neuer Landtag gewählt, und in beiden neuen Bundesländern ist die Frustration in der Bevölkerung groß. Umfragen zeigen, dass etwa die Hälfte der Wähler ihre Stimme der AfD oder dem im Januar gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) geben wird.

Einige von Wagenknechts politischen Zielen — eine Begrenzung der Zuwanderung oder eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland — decken sich mit denen der AfD. Auch höhere Steuern für Reiche gehören zum Programm der in Thüringen geborenen und dort sehr populären Politikerin. Das Ergebnis ist eine anschwellende Anti-Establishment-Welle im Herzen der Europäischen Union.

Die Ampelkoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz dürfte am Wochenende von ihr überrollt werden. Umfragen zufolge liegen die drei Regierungsparteien zusammen unter 15%. Auch wenn unentschlossene Wähler noch für Überraschungen sorgen können, sind die Wahlen ein untrügliches Zeichen dafür, dass die einst verlässliche politische Mitte Deutschlands gut 12 Monate vor der nächsten Bundestagswahl in Teilen des Landes zu bröckeln beginnt.

Eine tödliche Messerattacke in Solingen hat die Spannungen zuletzt verschärft und gezeigt, wie eng Themen wie Migrationspolitik und Sicherheit miteinander verknüpft sind. Ein Syrer, der abgeschoben werden sollte, hatte in der vergangenen Woche im Namen des von der Bundesregierung als Terrororganisation eingestuften Islamischen Staates drei Menschen getötet und weitere zum Teil schwer verletzt.

Frank Ullrich, der in Bad Salzungen in der Gruppe der AfD-Sympathisanten steht, artikuliert die wachsende Unzufriedenheit mit dem deutschen Mainstream. „Die Regierungsparteien zanken sich nur noch und bedienen ihre eigenen Interessen“, so der 69-jährige ehemalige Polizist. „Sie sind am Ende, wir brauchen eine Erneuerung.“

Ähnliche Einstellungen sind im Osten Deutschlands weit verbreitet, aber auch im wohlhabenderen Westen — vor allem in Regionen, die vom Strukturwandel betroffen sind. Eine unsichere Zukunft treibt dort viele Wähler in die Arme der AfD, die in Thüringen und Sachsen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird.

Die Krisen der letzten Jahre — von der Corona-Pandemie bis zum Ukraine-Krieg — haben da nicht geholfen. Ebenso wenig die Schwierigkeiten deutscher Unternehmen, sich auf neue Angebots- und Nachfragemuster in der Weltwirtschaft einzustellen, vor allem beim Export nach China. Die Berliner Sparpolitik und die Herausforderungen der Integration Hunderttausender Migranten und Asylbewerber taten ein Übriges. Das Beispiel Hessen, wo die AfD im Oktober 2023 mit 18,4% zweitstärkste Kraft wurde, zeigt indes, dass wirtschaftliche Faktoren allein den Erfolg der Partei nicht erklären können.

In Ostdeutschland, wo die Narben der Wiedervereinigung vor mehr als 30 Jahren noch immer spürbar sind, ist die Situation jedoch besonders angespannt. Die Durchschnittseinkommen sind niedriger als in den westlichen Bundesländern, und in Städten wie Bad Salzungen ist die Bevölkerung überwiegend älter — eine Folge der Abwanderung junger Menschen nach dem Zusammenbruch der volkseigenen Betriebe, die mit der westlichen Konkurrenz nicht mithalten konnten.

Auch ein Zustrom von Investitionen in den letzten Jahren hat die Stimmung kaum aufgehellt. Jeder dritte in Europa produzierte Chip ist heute „Made in Saxony“. BMW, Mercedes-Benz und Porsche haben ihre Produktion in der Region angesiedelt, und Volkswagen investiert 1,2 Milliarden Euro in ein Werk in Zwickau, um es zu einem führenden Produktionsstandort für Elektroautos auszubauen. Doch viele der besser bezahlten Arbeitsplätze gehen an den Einheimischen vorbei und die Enttäuschung sitzt tief.

„Natürlich spüren auch wir die Unruhe in Deutschland“, sagt VW-Vorstandschef Oliver Blume gegenüber Bloomberg nach einem Rundgang durch ein Porsche-Werk in Schwarzenberg nahe der tschechischen Grenze. „Ich führe das stark darauf zurück, dass es vielen Menschen an Orientierung und Perspektive fehlt.“

Statt der vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ mussten die Menschen im Osten Arbeitsplatzverluste und halb verlassene Städte erdulden. Enttäuschte Hoffnungen haben Misstrauen geweckt.

„Die Skepsis ist immer: Wenn man im Osten etwas macht, dann nur, weil die Menschen dort die Versuchskaninchen sein sollen“, sagt Thomas Knabel, IG-Metall-Bezirksleiter im sächsischen Zwickau, dem VW-Standort für Elektroautos.

AfD und BSW nutzen das Gefühl des Abgehängtseins aus. Beide teilen nicht die uneingeschränkte Verurteilung Russlands durch Ampelparteien und Union, präsentieren sich als Friedensstifter und werfen der Regierungskoalition vor, die Kämpfe in der Ukraine auf Kosten der Bedürfnisse der Deutschen zu verlängern.

„Die AfD-Gemeinschaft präsentiert sich als ‚Widerstand‘ gegen die Politik der sogenannten ‚Altparteien‘, denen sie die Zerstörung Deutschlands vorwirft,” sagt Florian Spissinger, ein Politikwissenschaftler, der die Gefühlswelt von AfD-Sympathisanten untersucht hat. „Was immer wieder als unideologische Protesthaltung missverstanden wurde, ist Teil der rechten Selbstdarstellung und Ideologie.“

Die AfD, 2013 als euroskeptische Partei gegründet und seitdem ins nationalistische Lager geglitten, wird voraussichtlich stärkste Kraft in Thüringen. Das wäre ein Meilenstein, der an die Machtübernahme der Nationalsozialisten erinnert, die in den 1920er Jahren in eben dieser Region Deutschlands einen frühen Aufschwung erlebten.

Der Weg der AfD an die Macht ist jedoch ungewiss. Die etablierten Parteien haben eine Brandmauer errichtet und gelobt, nicht mit ihr zusammenzuarbeiten. Wenn es dabei bleibt, könnte Thüringen unregierbar werden. In Sachsen droht ein ähnliches Szenario, auch wenn die AfD dort nur in einer der letzten drei Umfragen vor den Christdemokraten lag.

Björn Höcke, der umstrittene Vorsitzende des AfD-Landesverbands Thüringen, ist ein wichtiger Grund für den Erfolg der Partei — trotz und gleichermaßen aufgrund von Provokationen wie der Verwendung verbotener Naziparolen und der Bezeichnung des Holocaust-Mahnmals in Berlin als „Denkmal der Schande“.

In Bad Salzungen spricht der ehemalige Lehrer vor einem Transparent mit der Aufschrift „Der Osten macht’s“ — ein Slogan, der dafür steht, dass die AfD der Region ihren Stolz zurückgeben will. Er verspricht Anreize für junge Familien und verfällt prompt auch in Verschwörungstheorien, wonach Covid von „Globalisten“ erfunden wurde, um sich zu bereichern, und „Kartellparteien“ Deutsche durch Arbeiter aus Afrika ersetzen wollen.

Nach Höckes flammender Ansprache ist Elli Zentgraf hin- und hergerissen. Die 42-jährige Sozialpädagogin sagt, sie teile den Eindruck, dass die kommenden Jahre für viele Menschen härter werden, und suche nach Antworten. „Aber andererseits weiß ich, dass weniger Migration und mehr Babys nicht die Lösung sind“, sagt sie. „Ich meine, ernsthaft, man kann Frauen nicht dazu zwingen, mehr Kinder zu bekommen.“

Höckes Position stößt auch in AfD-Kreisen an mancher Stelle auf Kritik. Die Zustimmung, die er erfährt, wird hingegen gern gesehen. „Björn Höcke, bei aller Liebe zum Geschehen, ist nicht der Nabel der Partei“, sagt Carsten Hütter, Mitglied des Bundesvorstands der AfD und Landtagsabgeordneter in Sachsen. „Ich bin auch nicht immer einer Meinung mit ihm. Seine Erfolge in Thüringen muss man aber anerkennen.“

Die Haltung seiner Partei zu Abschiebungen stellt er als vergleichbar mit der Politik der CDU-Mitte dar. „Um für Sachsen zu sprechen: Wir sagen hier ganz klar, dass die Leute, die hier integriert, rechtschaffen und arbeitstätig sind, letztendlich ein ganz klares Recht haben, hier zu leben“, sagt er. „Es wäre ein Wahnwitz, auch nur annähernd danach zu greifen.“

Eine solche Art der Ambiguität ziele darauf ab, Kritik zu entschärfen und Zweifel an Extremismusvorwürfen zu säen, sagt Hans Vorländer, Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden und Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung.

„Das Parteiprogramm der AfD sieht zunächst einmal relativ harmlos aus, doch wird bei genauer Lektüre die Schärfe und die Gefährlichkeit der Partei erkennbar“, sagt er. Das BSW argumentiere in manchen Teilen ganz ähnlich wie die AfD. Sollte Höcke mit Unterstützung des BSW Ministerpräsident in Thüringen werden, „dann haben wir ein Problem, ein großes“. Wagenknecht hat allerdings wiederholt ausgeschlossen, Höcke zur Macht zu verhelfen, zuletzt am Freitag in einer Sendung auf RTL und ntv.

Das Programm der AfD enthält viele wirtschaftsliberale Ansätze wie weniger staatliche Eingriffe und niedrigere Steuern. Es gibt aber auch Ideen, die das exportorientierte Wirtschaftsmodell Deutschlands untergraben würden. Ein Ausstieg aus dem Euro etwa, die Skepsis gegenüber Freihandelsabkommen oder die Beschränkung der Zuwanderung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte.

In Thüringen, Sachsen und anderen Regionen in Ostdeutschland vermischen sich die politischen Themen mit dem Gefühl, von Berlin ignoriert zu werden. Dort “brennt es in den Unternehmensetagen schon unter den Nägeln, dass sie sich von der Politik nicht richtig repräsentiert fühlen”, sagt Matthias Diermeier, Forschungsgruppenleiter beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Auch unter der Wählerschaft herrschen Zweifel, dass die etablierten Parteien Lösungen für die Herausforderungen des Landes und den Umgang mit einer immer unzufriedeneren Bevölkerung in der Tasche haben. Und so sind es Menschen wie Michelle Schmidt, die sich gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft wehren.

„Ich habe wirklich Angst, dass die AfD eines Tages an die Macht kommt“, sagt die 27-jährige Büroangestellte, die sich — in eine Regenbogenfahne gehüllt — in Bad Salzungen in den Chor der Demonstranten eingereiht hat. „Ich denke, jeder steht in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass so etwas in Deutschland nie wieder passiert.“

--Mit Hilfe von Annika Reichelt.

©2024 Bloomberg L.P.