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Deutschland, das Panzerknacker-Paradies

In Deutschland werden so viele Geldautomaten angegriffen wie nie zuvor: Allein in NRW kommt es mehr als jeden zweiten Tag zu einem Überfall. Was macht unsere Geldautomaten für Kriminelle so attraktiv?

Es ist mitten in der Nacht, als ein Knall die Bewohner im nordrhein-westfälischen Heinsberg aus dem Schlaf reißt. Trümmer fliegen, ein Alarm heult los, Reifen quietschen. Zurück bleiben ein zerstörtes Bankgebäude und ein gesprengter Geldautomat – schon wieder. „Das passiert in wenigen Minuten: Gas einleiten, zünden, Geldkassette nehmen. Dann flüchten die Täter mit hochmotorisierten Fahrzeugen, die sie vorher stehlen“, erzählt Frank Scheulen, Erster Kriminalhauptkommissar beim LKA Nordrhein-Westfalen, das Vorgehen der Diebe. Wenn der Notruf bei der Polizei eingeht, sind die Diebe längst auf der Flucht – meist mit Vollgas Richtung holländische Grenze.

„Weil sie nachts zuschlagen, ist diese Methode recht sicher: Bei einer Verfolgungsjagd mit mehr als 250 Stundenkilometern kommt der Polizeihubschrauber nicht mehr mit. Dann müssen wir das Risiko abwägen und die Verfolgung oft abbrechen“, sagt Scheulen, „das ist schließlich für alle Beteiligten gefährlich.“ Tatsächlich nehmen die Täter bei ihren Raubzügen keine Rücksicht auf Verluste und riskieren oft sogar ihr Leben: Im Februar rasten drei Männer nach einem missglückten Sprengversuch an der deutsch-niederländischen Grenze in einen Lkw – zwei von ihnen starben.

Was klingt wie der Prolog eines Kriminalromans ist Alltag in Deutschland. Allein in Nordrhein-Westfalen wurde dieses Jahr mehr als jeden zweiten Tag ein Geldautomat gesprengt. Insgesamt gab es 2020 schon 98 Angriffe auf Geldautomaten nahezu aller deutschen Banken. Zwar waren 62 Prozent der Diebeszüge erfolglos, in den restlichen Fällen konnten die Panzerknacker hingegen Bargeld erbeuten und meist entkommen. Angriffe auf Geldautomaten sind keine Neuheit – allerdings wurden nie zuvor so viele angegriffen wie derzeit. Was macht die Automaten ausgerechnet jetzt zu so einem Magneten für Kriminelle?

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Corona beflügelt die Angriffsserie

Laut Scheulen kommen mehrere Faktoren zusammen: „In den Niederlanden gibt es eine Gruppierung hochprofessioneller Täter, die sich auf das Sprengen von Geldautomaten spezialisiert haben“, erklärt der Kriminalhauptkommissar: „Dort nehmen die Überfälle aber ab, weil die Automaten häufig besser gesichert sind als in Deutschland.“

Wie in vielen Fällen hängen die Veränderungen in jüngster Zeit aber auch mit der Coronakrise zusammen: „Seitdem die belgische Grenze zu den Niederlanden im Zuge der Pandemie geschlossen wurde, verlagern sich die Angriffe zunehmend nach NRW“, erläutert Scheulen. Ein weiterer Grund, die Raubzüge nach Deutschland zu verlagern, sei die Bargeld-Affinität der Bundesbürger – hierzulande gebe es einfach mehr Geldautomaten als in den Niederlanden.

Zusätzlich könnte man vermuten, die Automaten seien gerade jetzt gut gefüllt. Denn mit dem Coronavirus verbreiteten sich auch auffällige Verhaltensmuster. Was mit einem Ansturm auf Toilettenpapier begann, gipfelte in einem Run auf Papiergeld, bei dem die Deutschen Bares in rauen Mengen abhoben. Auf dem Höhepunkt lagen die ausgezahlten Beträge laut der Bundesbank etwa doppelt so hoch wie üblich. Die Research-Abteilung der Deutschen Bank sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der „Unsicherheit der Haushalte“ bezüglich der Pandemie und dem Abbuchungsverhalten im Lockdown-Monat März, in dem die Bundesbürger Guthaben in Höhe von 11,1 Milliarden Euro von ihren Konten abhoben. Ein Ansturm auf unterfütterte Geldautomaten ist das Horrorszenario jeder Bank. Haben die Kreditinstitute ihre Automaten also stärker befüllt und die Diebe damit zusätzlich angelockt?

Die großen deutschen Banken dementieren das. „Zu Beginn der Coronakrise ist das Volumen der Abhebungen angestiegen, aber bereits nach kurzer Zeit ebbte die Zahl der Bargeldverfügungen wieder ab“, berichtet ein Sprecher der Deutschen Bank. Danach habe sich die Nachfrage normalisiert, die Abhebungsquote sei „absolut unauffällig.“ Wie genau die Automaten befüllt werden und wie viel Geld durchschnittlich drin ist, verraten die Banken aus Sicherheitsgründen nicht.

Allerdings haben sich die Kreditinstitute zu Beginn der Krise mit Liquidität versorgt: Die Kassenbestände deutscher Banken sind laut Zahlen der Bundesbank um rund 20 Prozent gestiegen, seit das Virus in Deutschland grassiert. „Wir hatten anfangs die Bargeldreserven aufgestockt, aber nicht in den Automaten“, heißt es bei der Volksbank Rhein-Ruhr. Der Rheinische Sparkassen- und Giroverband (RSGV) lässt verlauten, er habe den erhöhten Bargeldbedarf „in der Regel durch häufigere Befüll-Rhythmen ausgeglichen“ – was im Umkehrschluss bedeutet, dass die durchschnittliche Geldmenge in den Automaten zwischenzeitlich gestiegen ist.


„Die Überfälle sind ein echtes Übel“

Sicherheitsdienstleister, die Bargeldtransporte übernehmen, beobachten seit Längerem, dass Banken ihre Serviceautomaten regelrecht vollstopfen: „Viele Banken tricksen und packen mehr Geld in die Automaten, weil die Versicherung dafür viel günstiger ist, als die Strafzinsen der Zentralbank oder die Kosten für professionelle Lagerung“, erzählt ein Manager eines Sicherheitsunternehmens hinter vorgehaltener Hand. Tatsächlich retten Banken überschüssiges Geld vor den Strafzinsen der EZB: Seit der Einführung des Negativzinses hat sich ihr Kassenbestand mehr als verdreifacht. Nach Recherchen der WirtschaftsWoche bunkern die Kreditinstitute einen Teil der Scheine in speziellen Tresoranlagen.

„Im Grunde sind Bankautomaten ja auch kleine Tresore. Banken haben Liquiditätsüberhänge und mit den Automaten versicherte Depots. Die zu füllen, ist grundsätzlich nicht verwerflich“, erklärt ein Sicherheitsdienstleister: „Aber wenn da keine umfassenden Sicherheitskonzepte dahinterstehen, weckt das natürlich Fantasien und birgt hohe Angriffsrisiken.“ Dass die höheren Geldsummen in den Automaten die Diebe anlocken, glaubt er aber nicht: „Dafür müsste man den Transporteur beobachten. Ich denke, die suchen sich eher schwache Automaten aus.“

Auch wenn die gestiegene Füllmenge nicht der Hauptgrund für die Sprengungen ist: Die Automaten scheinen ein lohnendes Angriffsziel zu sein. Wie viel Geld sich in einem Automaten befindet, verraten die Sicherheitsdienstleister nicht: „In den Automaten sind verschiedene Kassetten, die mit Scheinen gefüllt werden. Ob das 5er oder 100er sind, entscheidet die Bank“, sagt der Geschäftsführer eines Werttransportunternehmens: „Aber genau kann ich das nicht sagen. Ich möchte niemanden ermutigen, diese Überfälle sind ein echtes Übel.“

Verlockend scheinen jedoch offensichtliche Sicherheitslücken bei den Automaten zu sein. Laut dem LKA NRW werden vor allem Geldautomaten angegriffen, die draußen stehen. Während Automaten früher hauptsächlich durch Einleiten eines Gas-Luftgemisches gesprengt wurden, geht der aktuelle Trend zur Benutzung von Sprengstoff: „Bei diesen Angriffen entstehen nicht nur häufig hohe Schäden an Gebäuden, die Gefährdung von Unbeteiligten ist deutlich höher“, sagt Kriminalhauptkommissar Scheulen: „Es gab auch bereits einige zum Glück nur leichtverletzte Personen.“

Das LKA hat deshalb eine Handlungsempfehlung für die Betreiber von Geldautomaten geschrieben: „Wir wollen, dass die Banken überlegen, ob man wirklich jederzeit überall die Möglichkeit haben muss, Geld abzuheben, oder ob man die freistehenden Automaten nicht vom Netz nehmen könnte.“

Zudem fordert das LKA die Banken auf, ihre Automaten besser zu sichern, etwa mit einer Einbruchmelde- und einer Schutznebelanlage: „Die Erfolgsquote zeigt, dass Prävention hilft. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass sich die Angriffe von den Niederlanden nach Deutschland verlagert haben, seitdem die Automaten dort besser geschützt werden“, sagt Scheulen.

Die betroffenen Banken zeigen sich einsichtig. Schon vor der Angriffsserie habe der rheinische Sparkassen- und Giroverband mit den Sicherheitsbehörden Erfolge bei der Prävention von Angriffen auf Geldautomaten erzielt, sagt ein Sprecher. Insbesondere hätten sich die Banken gegen Gas-Angriffe gerüstet, „allerdings mit dem Resultat, dass die Täter nun verstärkt auf Sprengstoff zurückgreifen. Die Vorgehensweise der Täter wird brachialer und das macht uns Sorgen“, sagt der Sprecher. Einige Mitglieder hätten deshalb die Automaten in den Außenbereichen bereits geschlossen und bei den meisten seien zudem die SB-Bereiche mit Geldautomaten während der Nachtstunden nicht mehr zugänglich. Auch die Automaten der Volksbank Rhein-Ruhr seien gemäß der LKA-Empfehlung in der tatkritischen Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr nicht mehr zugänglich, sagt eine Sprecherin. Zudem denke die Bank über weitere technische Nachrüstungen nach.
Der Wille, die Geldautomaten und somit Anwohner, Gebäude und die Einlagen zu schützen, ist da.

Doch den Kriminellen das Handwerk zu legen, gestaltet sich schwierig: „Die NRW-Polizei hat in den vergangenen fünf Jahren 81 Personen festgenommen“, sagt Scheulen: „Es ist mühsam und wegen der großen Gruppierung auch schwierig, die Täter zu fassen, weil ständig neue nachrücken.“ Außerdem scheinen die Täter bei jeder neuen Schutzmaßnahme der Banken ebenfalls nachzurüsten. So lange es noch schwächer gesicherte Automaten gibt und genügend Beute winkt, dürften deshalb in nächster Zeit wohl noch mehr Anwohner des Nachts von einem lauten Knall aufgeschreckt werden – und feststellen müssen, dass gerade ein Geldautomat gesprengt wurde.

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