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Desinfektionsmittel statt Schnaps: Wie die deutsche Industrie ihre Produktion umstellt

In der Coronakrise stellen nun auch Autokonzerne und Getränkeproduzenten knappe Medizingüter her. Die Umstellung erfolgt in erstaunlich kurzer Zeit.

Während in der Coronakrise die großen deutschen Autobauer ihre Produktion nach und nach herunterfahren, läuft die neue Linie beim bayerischen Autozulieferer Zettl gerade erst an. Das Unternehmen fertigt Interieur-Teile und Prototypen für die Automobilindustrie und wäre eigentlich direkt von dem branchenübergreifenden Nachfrage-Einbruch betroffen. Doch Geschäftsführer Matthias Zettl konnte die Kurzarbeit in seinem Betrieb gerade noch abwenden – und hat stattdessen den Turbo eingeschaltet.

„Letzte Woche haben wir noch mit Kurzarbeit geplant“, sagte der Unternehmer dem Handelsblatt. „Wir hatten bereits alle unsere Mitarbeiter darüber informiert, dass wir Kurzarbeit angemeldet haben.“ Doch dann begann das Unternehmen auf Anregung der Politik damit, seine Produktion umzustellen. Nun produziert Zettl keine Autozulieferteile mehr – sondern Mundschutzmasken.

So wie Zettl überlegen viele Unternehmen, wie sie ihre derzeit stillgelegten Fabriken umfunktionieren können. Denn seit dem Ausbruch des Coronavirus in Deutschland wurden zahlreiche Betriebe geschlossen, um das Infektionsrisiko für die Belegschaft weitgehend zu minimieren. Teilweise sollen die Schließungen Wochen andauern – mit noch ungewissem Ausgang für die Betriebe.

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Doch während die Nachfrage nach klassischen Industrieprodukten dramatisch sinkt, kommt es in anderen Branchen seit Wochen zu Engpässen. So ist derzeit nicht nur der Mundschutz knapp in den Krankenhäusern. Auch Desinfektionsmittel ist vielerorts seit Wochen ausverkauft, ebenso wie Beatmungsgeräte – also nahezu alles, was für die medizinische Bewältigung der Coronakrise unabdingbar ist.

Deshalb produzieren Medizintechnikhersteller wie die Drägerwerke oder Getinge derzeit teilweise in doppeltem Tempo. Doch immer mehr Firmen wollen nun dabei helfen, dieses Ungleichgewicht zu beheben.

Produktionswechsel in wenigen Tagen

So prüfen Autohersteller wie VW oder Ford, ob sie auch medizinisches Gerät herstellen können. Schnapsbrennereien wie Jägermeister oder Brauereien wie AB Inbev stellen nun Reinigungsalkohol her, und die Textilunternehmen Trigema und Eterna schalten von Mode auf Mundschutz um.

Meist können die Firmen dabei auf bereits bestehendes Wissen in ihrer Belegschaft zurückgreifen. So dauerte der Wechsel bei Zettl in Bayern nur vier Tage. „Da wir im Bereich Entwicklung und Prototypenbau tätig sind, müssen wir uns im Tagesgeschäft immer neu auf unsere Kunden einstellen und teilweise innerhalb weniger Tage oder Stunden Bauteile fertigen“, so Geschäftsführer Zettl.

Beim Erstellen der ersten Schnittmuster für den Mundschutz habe dann die Erfahrung mit Lederbauteilen geholfen. „Die Herausforderung lag darin, eine Maske zu entwickeln, die für jede Kontur der Gesichtsform anzuwenden ist.“

Gleichzeitig mussten die Fabrikhallen umgeplant und die Hygienevorschriften in der Produktion deutlich verschärft werden. Doch dank weitgehender Automatisierung konnte Zettl den Ausstoß auf mittlerweile mehrere Zehntausend Masken pro Tag erhöhen.

Dabei sind Firmen aus der Autoindustrie häufig prädestiniert dafür, ihre oft flexiblen Fertigungslinien auch für andere Zwecke einzusetzen. So liegen dem Verband der Automobilindustrie nach eigenen Angaben derzeit verschiedene Anfragen vor, inwieweit die Autohersteller einen weitergehenden Beitrag zur Produktion von medizinischen Geräten und Atemmasken leisten können.

„Wir sind in dieser Frage mit den Unternehmen in engem Austausch und arbeiten an Möglichkeiten zur kurzfristigen Unterstützung der Produktion entsprechender Komponenten, Geräte und Produkte“, sagte Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA).

Die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie wollten ihren Beitrag dazu leisten, die aktuelle Krise schnell zu bewältigen, so die Verbandschefin. „Wir haben derzeit schon Unternehmen, die in China Schutzmasken herstellen. Andere spenden Hunderttausende dieser Masken. Über weitere Maßnahmen reden wir.“

Ford, GE und 3M wollen kooperieren

In den USA sind die Unternehmen schon einen Schritt weiter: Hier wollen der US-Autobauer Ford sowie die Konzerne General Electric und 3M kooperieren, um die Produktion von Beatmungsgeräten zu beschleunigen.

Es gehe darum, den Menschen an den „Frontlinien der Krise“ zu helfen, verkündete Fords Verwaltungsratschef Bill Ford am Dienstag. Über die Kooperation mit GE und 3M hinaus plane der US-Autobauer auch noch, mehr als 100.000 Plastikgesichtsmasken pro Woche in einer eigenen Fabrik zu fertigen und seine 3D-Druck-Technik für Schutzausrüstung einzusetzen.

Auch VW hat schon vor einigen Tagen eine Taskforce gegründet, die prüfen soll, inwieweit der Autobauer medizinisches Gerät herstellen kann. Dabei geht es nicht nur um die Standorte in Deutschland. Weltweit sei der Konzern von Behörden gebeten worden, bei der Teileproduktion für die Medizintechnik zu helfen, erklärte das Unternehmen.

Als eine Möglichkeit gelten dabei die 3D-Drucker von Volkswagen und anderen Autoherstellern, auf denen sich beispielsweise Kunststoffteile für Beatmungsgeräte herstellen ließen. Erste Versuchsteile seien bereits gedruckt worden, teilte das Unternehmen mit.

Sobald der Autohersteller die technischen Anforderungen kenne und auch die Software von Produzenten medizinischer Geräte erhalten habe, könne Volkswagen mit der Herstellung der Bauteile beginnen.

Branchenkenner sind skeptisch

Doch weil es sich bei der Produktion von Medizintechnik oft um einen hochregulierten Markt handelt, sind Branchenkenner skeptisch, inwieweit sich die Produktionsumstellung kurzfristig realisieren lässt. „Die Kerntechnologie der heutigen Beatmungsgeräte – Elektronik und Software, die die Pneumatik steuern – unterscheidet sich elementar von dem Herstellungsbetrieb von Automobilherstellern“, sagte etwa eine Unternehmenssprecherin des Medizintechnikhersteller Drägerwerk.

Schließlich seien solche Geräte inzwischen Hightech: „Es handelt sich bei den meisten Materialien um speziell entwickeltes Design und keine Standardteile. Sowohl die Materialqualifizierung bei den Lieferanten als auch im Produktionsbetrieb erfolgt mit speziell dafür entwickeltem produktspezifischem Test-Equipment“, erläutert die Sprecherin.

Bei Produkten wie Mundschutz oder Desinfektionsmitteln ist der Wechsel deutlich einfacher. So lässt der Automobilzulieferer Zettl seinen Mundschutz derzeit von der Prüfgesellschaft Dekra zertifizieren. Die ersten Rückmeldungen der Dekra seien durchaus positiv ausgefallen, sagte Geschäftsführer Matthias Zettl.

Dabei profitiert das Familienunternehmen von einer Regelung, die die EU-Kommission erst vor wenigen Tagen erließ. Wegen der Corona-Pandemie genehmigte Brüssel ein beschleunigtes Prüfverfahren für Atemschutzmasken, um den bestehenden Mangel zu beheben. „Normalerweise dauert die Zulassung von Mundschutzmasken deutlich länger“, sagte ein Sprecher der Dekra.

Hilfreich dürfte bei dem Prozess auch gewesen sein, dass die Mundschutzmasken, die Zettl nun herstellt, streng genommen nicht als Medizinprodukte gelten. „Bei der Produktion von Medizintechnik werden noch einmal ganz andere Anforderungen an die Fertigung gestellt. So braucht meist jeder Mitarbeiter eine besondere Qualifikation.“

Auch Start-ups mischen in der Krise bei der Produktion von dringend benötigten Massenprodukten mit. So etwa der Produzent von Holz-Accessoires Be Wooden aus Bad Vilbel. Wegen der Coronakrise hat das Unternehmen, das Manschettenknöpfe, Fliegen und Hosenträger herstellt, einen 80-prozentigen Absatzeinbruch zu verkraften. Doch seit einigen Tagen produziert die Firma nur noch eins: Mundschutzmasken.

Schnaps für die Hände

Das Know-how für die Masken kommt von einem Start-up, das ebenfalls starke Umsatzeinbrüche verkraften muss: „von Jungfeld“ aus Mannheim, das seit 2013 nachhaltige Socken verkauft.

Zusammen sind bei beiden Unternehmen 40 Arbeitsplätze von der Krise bedroht. Die versuchen sie nun als Chance zu sehen. Um die zehn Euro kostet eine Maske im Onlineshop. Für jede verkaufte Maske produzieren die Firmen eine „Soli-Maske“ obendrauf, die sie an mittellose Menschen abgeben wollen.

Auch die Spirituosenindustrie will in der Coronakrise einspringen, um die Knappheit in den Krankenhäusern zu lindern. So heißt es derzeit Desinfektionsmittel statt Kräuterlikör bei Mast-Jägermeister aus Wolfenbüttel. Die Unternehmerfamilie Mast stellt dem Klinikum Braunschweig über ihr Unternehmen 50.000 Liter Alkohol zur Verfügung.

In der Krankenhausapotheke soll Hände-Desinfektionsmittel für die Kliniken der Region hergestellt werden. „Wir springen gern unterstützend ein, um dem drohenden Leerstand an Desinfektionsmitteln entgegenzuwirken“, sagte Florian Rehm von der Unternehmerfamilie.

Auch die Sektkellerei Rotkäppchen-Mumm hilft in der Coronakrise mit Alkohol für Desinfektionsmittel aus. Die Tochter Nordbrand aus Nordhausen, die sonst Korn herstellt, hat rund 200 Apotheken bundesweit mit kleinen Mengen Alkohol beliefert. Der Konzern Diageo („Johnnie Walker“, „Smirnoff“) stiftet gar bis zu zwei Millionen Liter Alkohol in der Coronakrise.

Bierbrauer Anheuser-Busch Inbev Europa („Beck’s“) spendet 50.000 Liter hochprozentigen Alkohol. Das Abfallprodukt alkoholfreier Biere wird sonst verkauft. Zudem wird in der Bremer Beck's Brauerei Desinfektionsmittel auf Wasserbasis für die eigenen Werke hergestellt. Seit Freitag ist die Produktion hochgefahren, um auch andere Firmen zu beliefern.

Rohstoffe werden knapp

Die Nachfrage nach reinem Alkohol zum Desinfizieren ist weltweit inzwischen so stark gestiegen, dass kleinere Spirituosenbrenner bereits in Schwierigkeiten kommen. Bei den Rheinland Distillers aus Bonn etwa werden die Rohstoffe für den „Siegfried Rheinland Dry Gin“ knapp. „Die Krux an der Sache ist, dass wir als Spirituosen-Hersteller um den einen Rohstoff konkurrieren, der aktuell dringend in Krankenhäusern benötigt wird und dort natürlich lebenswichtig ist“, sagen die Geschäftsführer Raphael Vollmar und Gerald Koenen.

Dabei wird Alkohol nicht nur als Spirituose, sondern häufig auch als Sprit konsumiert – etwa in den Biokraftstoffen, die das Unternehmen Verbio an seinem Standort in Zörbig produziert.

Mittlerweile beliefert das Unternehmen Krankenhäuser und Apotheken mit Desinfektionsmittel. Dafür haben die Leipziger innerhalb von zehn Tagen eine komplette Produktions- und Abfüllanlage aufgebaut.

Am Dienstag wurden die ersten Liter des aktuell stark nachgefragten Hygienemittels bereits an Apotheken in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg ausgeliefert. 40.000 Liter pro Woche kann Verbio jetzt schon produzieren, die Produktionsmengen sollen sukzessive gesteigert werden.

„Wir sind auf die Idee gekommen, weil uns immer mehr Menschen aus der Region angesprochen haben, ob wir nicht auch Desinfektionsmittel herstellen könnten“, erklärt eine Sprecherin des Unternehmens. Entgegen den Vorbehalten der Politik habe man sich schließlich dafür entschieden, die Anlage umzubauen.

Die Nachfrage sei riesig: „Das Telefon steht seit Montag nicht mehr still“, so die Sprecherin.

Mehr: Lesen Sie hier, was Mieter, Käufer und Wohnungseigentümer in Zeiten von Corona beachten müssen.