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Mit Dante zur neuen EZB-Strategie - wie Lagarde die Fäden zog

(Bloomberg) -- Christine Lagarde lädt ein: Europas Geldpolitiker nehmen sich dieses Wochenende eine Auszeit vor den Toren Frankfurts. In ländlicher Abgeschiedenheit sollen die letzten Streitfragen bei der größten Neuordnung ihrer geldpolitischen Strategie seit fast zwei Jahrzehnten aus dem Weg geräumt werden.

Es ist das erste Mal seit dem Ausbruch der Pandemie, dass sich die Chefin der Europäischen Zentralbank mit allen Ratsmitgliedern persönlich trifft. Ihr Ziel: Die EZB fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Zur Debatte steht ein neues Inflationsziel, bessere Methoden zur Vermessung der Wirtschaft und welche Rolle Themen wie Klimawandel und Ungleichheit in der Geldpolitik spielen sollen.

Der Ausflug ins Hinterland der Bankenmetropole läutet die letzte Phase eines Prozesses ein, der vor 18 Monaten begann und fast umgehend durch das Coronavirus unterbrochen wurde. Die per Telekonferenz geführten Debatten bescherten teilweise kuriose Momente - etwa, als Lagarde Online-Chatrooms verbot oder ein Notenbanker mittelalterliche Poesie rezitierte.

Die Ergebnisse des Prozesses werden vor dem jährlichen EZB-Forum am 28. und 29. September erwartet. Kritik ist unvermeidbar, gerade bei Themen wie der Rolle der Institution bei der Bekämpfung des Klimawandels. Gleichwohl hat die Überprüfung eine neue Perspektive auf tiefgreifende wirtschaftliche Trends eröffnet und Tausende von Seiten an Erkenntnissen hervorgebracht, die politische Entscheidungen möglicherweise für Jahrzehnte beeinflussen werden.

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Dieser Artikel basiert auf Interviews mit mehr als 20 am Prozess beteiligten Personen, die nicht namentlich genannt werden wollten.

‘Jeden Stein’

Die Idee einer Strategieüberprüfung wurde erstmals Ende 2018 vom Gouverneur der finnischen Zentralbank, Olli Rehn, öffentlich thematisiert und von Lagarde nach ihrer Ernennung als EZB-Präsidentin aufgegriffen.

Eine Evaluierung der Strategie ist längst überfällig. Seit der letzten im Jahr 2003 ist der Euroraum von 12 auf 19 Mitglieder angewachsen, hat zwei große Krisen durchgemacht und grundlegende Veränderungen der Weltwirtschaft erlebt. Die Inflation im Euroraum verfehlt seit Jahren das Ziel von “unter, aber nahe bei 2%” und kratzt so an der Glaubwürdigkeit der EZB. Die vage Formulierung ist in den Augen einiger Notenbanker Teil des Problems, andere sorgen sich um den Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Inflation, den deflationären Einfluss von Globalisierung und Digitalisierung oder darum, dass Europa aufgrund seiner alternden Bevölkerung stagniert.

Zudem scheint es an der Zeit, nach den konfliktreichen Jahren unter Mario Draghis Führung, in denen kontroverse Instrumente wie Negativzinsen und quantitative Lockerung eingesetzt wurden, neue Mehrheiten zu schmieden.

Lagarde startete die Überprüfung im Januar 2020 und versprach, bis zum Ende des Jahres “jeden Stein einzeln umzudrehen.” Von den acht ursprünglichen Arbeitsgruppen, entpuppte sich die zum Kampf gegen den Klimawandel - für den sich Lagarde leidenschaftlich einsetzt - sofort zum Schauplatz der heißesten Diskussionen, da einige Notenbanker befürchteten, in Angelegenheiten hineingezogen zu werden, die gewählten Politikern vorbehalten sein sollten. Das Inflationsziel, obwohl eher technisch, barg ebenfalls Potenzial für Meinungsverschiedenheiten.

Es dauerte nicht lange, bis die Pandemie alle Pläne über den Haufen warf und die Geldpolitiker das wirkmächtigste Anleiheprogramm in der Geschichte der EZB starteten, um kollabierende Finanzmärkte und eine paralysierte Wirtschaft zu unterstützen.

Weiterlesen: Wie die EZB unter Lagarde in vier Wochen eine Trendwende vollzog

Eine für den 1. April 2020 geplante Debatte zur Strategieüberprüfung wurde zunächst um sechs Wochen und dann auf unbestimmte Zeit verschoben. Erst im Sommer war die Krise soweit abgeklungen, dass man eine Fortsetzung für September ins Auge fassen konnte. Zu diesem Zeitpunkt waren aus acht 12 Arbeitsgruppen geworden - Beschäftigung kam Anfang 2021 als 13. hinzu. Etwa 650 Personen wurden direkt in das Projekt einbezogen, mehrere hundert weitere halfen bei der Koordination.

Der Aufwand ist deutlich größer als 2003. Damals arbeitete eine Gruppe aus der Abteilung Volkswirtschaft mit einigen Kollegen aus dem Bereich Forschung sieben Monate lang an gerade mal zwei Themensträngen.

Lagarde bestand auf einem “inklusiven” Ansatz, bei dem Branchengruppen, Non-Profit-Organisationen, Akademiker, Abgeordnete und die Öffentlichkeit zu Wort kommen sollten. Es gab 18 Veranstaltungen, bei denen Notenbankern die Rolle der Zuhörer zukam, und fast 4.000 Menschen beantworteten eine Online-Umfrage, bei der sie Anliegen wie Inflation, Wohnkosten, Beschäftigungsbedingungen, Ungleichheit und Umwelt thematisierten.

Fünf Monate lang beschäftigte sich die EZB mit Themen wie Inflationsmessung, Preistrends und geldpolitischen Instrumenten, bevor sie im Februar eine Zwischenbilanz zog. Seitdem haben sich die Ratsmitglieder auf breiter angelegte Themen wie Finanzstabilität und das Zusammenspiel von Fiskal- und Geldpolitik konzentriert.

Einige witzeln, dass sie, egal wie sie sich entscheiden, zumindest einen exzellenten Forschungsfundus hinterlassen werden - denn die Notenbanker werden vor jeder Debatte mit Material zugeschüttet. Die Papiere für die Sitzung zu politischen Instrumenten umfassten 500 Seiten, die zur Zwei-Säulen-Strategie der wirtschaftlichen und monetären Analyse über 800 Seiten. Einige füllten Ordner um Ordner mit ausgedruckten Texten und versuchten, möglichst viel selbst zu lesen, andere verließen sich eher auf ihre Mitarbeiter. Allen hat geholfen, dass die Pandemie Reisen nahezu unterbunden hat und in Heimarbeit Zeit zum Lesen war.

Während der Sitzungen führte Lagarde ein strenges Regiment. Präsentationen schrumpften so von bis zu anderthalb Stunden auf höchstens 30 Minuten und Ratsmitglieder lernten schnell, wie viel Redezeit sie haben, bevor Unmut aufkommt. Virtuelle Handzeichen – die EZB verwendet für ihre Sitzungen die Webex-Software – waren lange eine Herausforderung, und eine Sekretärin verfolgt weiterhin genau, dass auch jeder an die Reihe kommt.

Lagarde ist bekannt dafür, diejenigen, die ihre Kamera ausschalten oder wegdrehen, zu fragen, ob sie Wichtigeres zu tun haben. Parallele Chatrooms hat sie nach einer Debatte über den Klimawandel verboten, weil sie ablenken und zudem außerhalb des offiziellen Protokolls stattfanden.

Sie wartet normalerweise bis zum Ende, um ihre Ansichten mitzuteilen, und Kollegen sagen, sie sei gut darin, die Debatte zusammenzufassen. Allerdings wünschen sich viele, dass auch Schlussfolgerungen aus den Diskussionen gezogen werden. Lagarde beharrt aber darauf, dass nichts vereinbart ist, bevor nicht alles vereinbart ist. Zudem hat sie ihre Kollegen wiederholt aufgefordert, sich nicht öffentlich zur Strategieüberprüfung zu äußern – auch im Vorfeld des Klausur diese Woche.

Zwei wichtige Themen dieser Sitzung werden das Inflationsziel und der Klimawandel sein. Ersteres ist für die Geldpolitik von entscheidender Bedeutung. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass es geändert werden sollte, aber Uneinigkeit darüber, wie genau. Einige befürworten ein präzises Ziel von 2% und Flexibilität zur Erreichung des Ziels. Andere – insbesondere aus Südeuropa – wollen eine ausdrückliche Zusage, nach niedrigeren Raten höhere zu tolerieren.

EZB-Chefvolkswirt Philip Lane schlug vor, “symmetrisch” auf eine zu hohe oder zu niedrige Inflation zu reagieren – ohne auf einem symmetrischen Ergebnis zu bestehen. Das würde bedeuten, dass das Preiswachstum nicht immer durchschnittlich 2% betragen muss.

Die Diskussionen zum Klimawandel gehörten zu den schwierigsten. Lagarde will einen möglichst großen Beitrag der EZB und war zuweilen enttäuscht über die Gegenwehr mancher Ratsmitglieder. Obwohl sie dort Unterstützer hat, befürchten viele, dass ein zu großes Engagement vom primären Mandat der Sicherung von Preisstabilität ablenken würde. Einige sagten, es sei unlogisch, den Klimawandel zu bekämpfen, nicht aber Dinge wie Ungleichheit.

Ein Hauptstreitpunkt ist das derzeitige Prinzip der Marktneutralität, demzufolge Anleihekäufe die Zusammensetzung des Marktes widerspiegeln sollen. Ein Argument für diese Neutralität ist, dass Geldpolitiker nicht bestimmte Branchen begünstigen sollten, ein Gegenargument lautet, dass damit auch große Mengen von Anleihen CO2-intensiver Unternehmen angekauft werden.

Um ihrer Position Nachdruck zu verleihen lud Lagarde Lord Nicholas Stern ein, der als einziger Außenstehender an einer Ratssitzung teilnehmen durfte. Der Professor der London School of Economics warnte vor der Unzulänglichkeit von Neutralität, und sein Institut hat inzwischen einen Leitfaden herausgegeben, in dem die EZB aufgefordert wird, bei allen Operationen das PrNullemissionen zu verfolgen.

Die Debatte veranlasste einen Gouverneur, auf den italienischen Dichter und Philosophen Dante Alighieri zurückzugreifen und zu sagen: “Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben.”

Lane musste ihn aufmuntern und ihm versichern, dass ein Kompromiss gefunden werden könne. Am kommenden Wochenende wird dies das Ziel von Lagarde sein.

Überschrift des Artikels im Original:How the ECB Is Overhauling Strategy in the Midst of a Pandemic

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