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Wie die Unternehmen auf einen harten Brexit vorbereitet sind

Dass dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt zum Jahreswechsel ein Handelsabkommen folgt, glauben in Deutschland nur noch wenige. Die Folgen wären mancherorts fatal.

Es waren die üblichen Beschwörungen, die Politiker vorbringen, wenn es nichts Substanzielles zu berichten gibt. „Wir streben eine starke Basis für eine strategische Beziehung zwischen Großbritannien und der EU an“, sagten EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der britische Premier Boris Johnson am Samstag nach einem Gespräch. Es gebe „Fortschritte, aber auch erhebliche Lücken“

Doch die Zeit wird knapp, der Countdown für einen Brexit ohne Vertrag läuft. Johnson hatte eine Verhandlungsfrist bis zum 15. Oktober gesetzt, am Freitag war die neunte Verhandlungsrunde ohne Durchbruch zu Ende gegangen. So erwarten Experten, dass die Gespräche möglicherweise bis in die erste Novemberwoche hinziehen werden.

In dieser Woche läuft die Maschine der Krisendiplomatie noch einmal auf Hochtouren. Am Montag trifft EU-Chefunterhändler Michel Barnier in Berlin Kanzlerin Angela Merkel, um die EU-Strategie nachzuschärfen. Auch Johnson wird sich noch für einen Deal bewegen müssen.

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Nur an einer Frist soll nicht gerüttelt werden: Am 31. Dezember verlässt Großbritannien den Europäischen Binnenmarkt und die Zollunion — mit oder ohne Deal. Geht das Land ohne Vertrag, würde der einst enge EU-Partner auf WTO-Status heruntergestuft. Das heißt, es drohen hohe Zölle und Handelshürden.

Die Mehrheit der deutschen Unternehmen rechnet inzwischen fest mit diesem Szenario und hat sich bereits auf das Schlimmste vorbereitet, wie eine Umfrage des Handelsblattes ergab. Ob im Verkehrssektor, in der Industrie oder in der Chemiebranche – trotz guter Vorbereitung dürfte ein Brexit ohne Freihandelsabkommen viele Branchen empfindlich treffen.

Vor allem auf der britischen Seite droht indes ein Chaos. Wie auch immer die letzte entscheidende Verhandlungsrunde ausgeht: „Die Folgen der Trennung werden gravierend sein“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest, „und sie werden uns noch lange beschäftigen.“

Was ökonomisch für beide Seiten auf dem Spiel steht, zeigt ein Blick in die Statistik. Die EU verliert nicht nur ihre zweitgrößte Volkswirtschaft - und damit ein Sechstel ihrer Wirtschaftskraft. Beide Seiten sind auch strukturell tief verflochten.

Großbritannien exportierte im Jahr 2019 Waren im Wert von 187 Milliarden Euro in die EU, 40 Milliarden davon allein nach Deutschland, das gleich hinter den USA (67 Milliarden Euro) zweitgrößter Abnehmer britischer Waren ist.

Aber auch umgekehrt gibt es eine Abhängigkeit – vor allem deutscher Unternehmen. Das Königreich rangiert mit 79 Milliarden Euro Volumen auf Rang fünf deutscher Exportzielländer.

Logistikbranche lebt die Trennung bereits – auf dem Kontinent jedenfalls

In der Speditions- und Frachtbranche hat der Brexit die Teilung Europas längst vorweggenommen. Schon drei Monate vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt verläuft die klare Trennlinie zwischen dem Festland, wo Speditionen längst mit erprobten IT-Systemen gegen einen harten Brexit vorgesorgt haben, und der britischen Insel. Denn dort sagt Londons Regierung ihren Frachtführern ab Anfang 2021 ein erhebliches Chaos voraus.

„Ich rechne fest damit, dass wir ab Januar eine Zollabfertigung im Grenzverkehr bekommen“, sagt Stefan Paul, der beim Speditionsriesen Kühne + Nagel (K+N) verantwortlich ist für den Landverkehr. „Wir sind dennoch zuversichtlich, dass wir kaum Probleme bekommen.“ Schon vor anderthalb Jahren habe sein Team Lösungen entwickelt, um möglichst reibungslose Transporte sicherzustellen.

Bei der Post-Frachttochter DHL zeigt man sich ebenso startbereit – auch wenn die Konzernspitze immer noch auf eine Einigung zwischen EU und Großbritannien hofft. „Wir haben unsere Prozesse angepasst und zahlreiche Zollexperten zusätzlich eingestellt“, berichtet eine Sprecherin. Derzeit sei man in intensiven Vorbereitungsgesprächen mit Kunden, um sie zu informieren, welche Frachtunterlagen künftig beim Export nach Großbritannien benötigt werden. Experten wie K+N-Manager Paul sagen eine Verfünffachung an Dokumenten voraus.

Ähnliche Rückmeldungen hat der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV) von vielen seiner Mitgliedsfirmen erhalten. „Die Speditionen sind auf einen harten Brexit vorbereitet“, gibt ein Verbandssprecher Entwarnung. Einzig der Fachkräftemangel, der viele nach Zollexperten suchen lässt, bereite noch Sorgen.

Herzstück der neuen Lösung ist etwa bei K+N ein ausgeklügeltes IT-System, das Landverkehr-Chef Paul „Easy Brexit Solution“ nennt. Für die Zollanmeldungen, die dort vor dem Verladen online vollständig ausgefüllt werden müssen, erhalten die Fahrer einen Barcode, den Grenzer in Calais nur noch per Scanner überprüfen. Im Fall von Exporteuren sind dies Ausfuhrbescheinigungen, Importeure haben eine Einfuhr-Zollabfertigung vorzubereiten.

In Calais entfällt damit der Papierkram, allenfalls Stichproben soll es dann noch geben, wozu die französische Hafenstadt neun Kais zusätzlich errichten ließ. Dort können Zöllner und Veterinärmediziner die Ware bei Verdacht entladen lassen. „Es wird keine Massenstaus in Calais geben“, versprachen die französischen Behörden bereits vor Monaten in einer Presseerklärung, nachdem sie ihre „digitale Grenze“ in einem Pilotversuch getestet hatten.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Ärmelkanals will die Regierung auf solche Kontrollen der täglich rund 6000 Lkws in der ersten Jahreshälfte verzichten, weil die eigenen Vorbereitungen noch nicht so weit sind. Man vertraue auf den Zoll der Festlandseuropäer. Ein reibungsloser Ablauf dort ist trotzdem reine Illusion. Weil es die Insel nicht rechtzeitig zum Jahreswechsel schafft, das eigene Zollanmeldesystem mit dem Rest Europas zu verknüpfen, die EU zudem für die ersten Monate keine Erleichterungen in Aussicht stellt, droht wohl noch bis Juli 2021 auf britischer Seite ein Abfertigungs-GAU.

Grund hierfür ist keineswegs nur, dass 175.000 kleinen und mittleren Betrieben in Großbritannien Zollanmeldungen fremd sind, weil sie bislang ausschließlich in die EU exportierten. Schlimmer noch dürfte Großbritannien die stockende Abfertigung treffen. Bis zu zwei Tage könnten die Lkws vor Dover auf Autobahnen und Parkplätzen verharren müssen, räumte Londons Regierung kürzlich ein. Transporteure von frischem Fisch oder Lammfleisch bekämen damit erhebliche Probleme, ebenso wie Zulieferer für die Automobilindustrie, die üblicherweise „just in time“ ordert.

Die gesamte Grafschaft Kent, an deren Südende der Hafen Dover liegt, soll wegen des erwarteten Chaos für Lastwagen über 7,5 Tonnen zum Sperrgebiet werden. Um dort kilometerlange Autobahnstaus zu verhindern, sollen die Brummis erst dann nach Kent einreisen dürfen, wenn ihnen der Hafen grünes Licht signalisiert. „Kentxit“ tauften Spötter das Ziehen der neuen innerenglischen Lkw-Grenze.

Doch sorgenfrei ist man auch auf deutscher Seite längst noch nicht. „Wir können nur hoffen“, sagt DSLV-Geschäftsführer Niels Beuck, „dass beide Seiten eine praktikable Lösung für die gegenseitige Anerkennung von Dokumenten finden.“ Die nämlich gibt es bis heute nicht einmal für Führerscheine.
Und eine dringende Bitte hat der Berliner Branchenvertreter: Eine weitere Übergangslösung für den Brexit, die den Unternehmen noch einmal die Planungssicherheit nimmt, sollten sich die Politiker sparen.

Autoindustrie ist hart getroffen, aber auf den Worst Case vorbereitet

Von einem Brexit ohne Freihandelsabkommen besonders betroffen wäre die BMW Group in München. Großbritannien ist der viertgrößte Absatzmarkt, mit Mini und Rolls-Royce haben zwei von vier Konzernmarken ihren Sitz auf der Insel. BMW hat seit 2000 zwei Milliarden Pfund in den Aufbau von Mini investiert, 80 Prozent der Kleinwagen werden exportiert – vornehmlich in die EU.

Der Ärger in München über den Brexit-Kurs der Briten ist groß, offene Kritik verkneift man sich. Es müsse nun eine einfache Vereinbarung gefunden werden, die Zölle oder zusätzliche administrative Hindernisse verhindert, erklärte eine Sprecherin auf Anfrage. „Zugang zur EU und zum globalen Markt für Talente, Beschäftigung und Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein entscheidender Faktor für unser Unternehmen.“

Ein No-Deal hätte Konsequenzen. In der Folge käme es zu Preiserhöhungen und zu einem Volumen- wie Produktionsrückgang, warnt man in München. Da BMW in den vergangenen Jahren mehrfach mit einem No-Deal kalkulieren musste, hat das Unternehmen seine Logistik auf den Extremfall eingestellt.

Auf die Mini-Produktion in Oxford allein will man sich nicht mehr verlassen. Strategisch hat der Konzern bereits vor Jahren einen Teil der Mini-Produktion in den Niederlanden bei dem Auftragsfertiger Nedcar angesiedelt. In China läuft derzeit eine gemeinsame Mini-Produktion mit dem Partner Great Wall an. Zudem steht Mini nun technisch auf der gleichen Plattform wie die BMW-Kompaktmodelle und könnte somit theoretisch auch in deutschen BMW-Werken gebaut werden.

Auch der weltgrößte Autozulieferer Bosch hat sich längst auf den Worst Case eingestellt. Eine interne Taskforce beschäftigt sich mit den möglichen Folgen für unterschiedliche Themenbereiche wie Zölle, Recht, Finanzen, Personal.

Bosch hat in Großbritannien über 5000 Mitarbeiter und setzt über vier Milliarden Euro um. Sollte zum Ende der Übergangsphase kein Handelsabkommen geschlossen werden, schätzt Bosch allein durch die Wiedereinführung von Zöllen aufseiten Großbritanniens und der EU (auf Basis der WTO-Regeln) seine Mehrkosten auf einen „mittleren zweistelligen Millionen-Euro-Betrag jährlich“.

Andere zahlen jetzt schon drauf. Der Maschinenbauer Trumpf mit vielen Kunden in der Autoindustrie hat vorsorglich seine Lager in den britischen Werken aufgefüllt, um nicht kurzfristig in einen Engpass zu kommen.

Großbritannien ist der zweitgrößte europäische Einzelmarkt für Neuwagen und beheimatet zugleich 2500 Autozulieferer. Der europäische Zuliefererverband Clepa ist davon überzeugt, „dass der Brexit die Lieferketten der Autoindustrie in einem kritischen Moment besonders empfindlich trifft“.

Die Märkte sind eng verflochten. Drei Viertel der in England importierten Autokomponenten kommen aus der EU und zwei Drittel der in Großbritannien gefertigten Komponenten gehen in die EU. Allerdings: Anders als Großbritannien können die global aufgestellten Konzerne der europäischen Autoindustrie langfristig leichter ausweichen als andersherum.

Eine Lösung ohne Einigung würde besonders Ford Europa treffen. Das gesamte europäische Fertigungsnetz des US-Herstellers basiert auf einem freien Warenverkehr. So werden beispielsweise in Großbritannien Motoren gefertigt, die später in den deutschen Werken in Köln und Saarlouis in der Pkw-Montage verwendet werden. Ford würde also zweimal von Zöllen getroffen werden: bei der Einfuhr der Motoren auf dem europäischen Kontinent und wieder bei der Einfuhr der fertigen Autos in Großbritannien.

„Wir hoffen, dass diese Situation vermieden werden kann“, sagte ein Ford-Sprecher in Köln. Auch in Zukunft müsse es einen zollfreien Handel zwischen dem Kontinent und der britischen Insel geben. „Das ist der Schlüssel für uns im Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien“, hatte Ford-Europa-Chef Stuart Rowley zu Jahresbeginn betont. Ford verdient schon jetzt kaum Geld in Europa. Zölle würden die Wirtschaftlichkeit zusätzlich infrage stellen. Deutschland und Großbritannien sind die beiden wichtigsten europäischen Märkte für den US-Autohersteller.

Die europäische Ford-Tochter habe sich mit Notfallplänen auf eine Zeit ohne Abkommen vorbereitet, ergänzte der Sprecher. Dazu gehöre die Sicherstellung von Fahrzeug- und Teileversorgung – also ebenfalls ein vergrößertes Lager. Doch auch mit den Notfallplänen werde es nicht möglich sein, „Einschränkungen ganz zu vermeiden“.

Pharma und Chemie stocken Lagerkapazitäten auf

Die deutschen Chemie- und Pharmaunternehmen bereiten sich schon länger auf das Szenario eines No-Deal vor, etwa mit größerer Lagerhaltung auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Gleichzeitig verlangt die Pharmaindustrie als Minimum ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Qualitätskontrollen und anderen regulatorischen Standards sowie einen freien Datenaustausch.

Für die Branche ist es ein Horrorszenario, wenn Arzneien künftig nach unterschiedlichen britischen und EU-Standards doppelte Qualitätskontrollen durchlaufen müssten. Zwischen Großbritannien und den EU-Staaten besteht ein enger Austausch bei der Fertigung von Arzneien. Ein No-Deal könnte die Auslieferung von Medikamenten um bis zu sechs Wochen verzögern, warnt der Chef des britischen Pharmaverbands, Richard Torbett.

Medikamentenengpässe fürchte die Branche aber nicht. Zum einen haben die Firmen ihre Transportrouten bereits diversifiziert – weg von dem Nadelöhr in Dover, wo Londons Regierung wegen der Grenzkontrollen lange Lastwagenstaus erwartet. Zum anderen haben viele Anbieter ausreichend Lager aufgebaut. „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet und haben zusätzliche Lagerkapazitäten in Großbritannien gesichert, um die Versorgung unserer Kunden mit wichtigen Medikamenten sicherzustellen“, heißt es etwa bei Bayer.

Der Leverkusener Konzern wünscht sich, dass Großbritannien und die EU weiterhin die größtmögliche wirtschaftliche Integration anstreben sollten. „Wenn dies bis zum Ende des Jahres nicht zu schaffen ist, sollte die Übergangsphase verlängert werden“, heißt es dort.

Die Darmstädter Merck KGaA arbeitet nach eigenen Angaben mit Hochdruck und gemeinsam mit den staatlichen Gesundheitssystemen daran, die Versorgung der Patienten mit Medikamenten sicherzustellen. Die direkten Auswirkungen des Brexits aufs Geschäft hält Merck aber für begrenzt.

Konkurrent Boehringer fordert, dass sich EU und Großbritannien schnell auf technische Details einigen. Man bereite sich aber auf alle Szenarien vor und treffe Vorsorge bei allen wichtigen Themen, die von Registrierung und Zulassung über klinische Studien bis hin zu Versorgungsfragen reichen. Auch Boehringer hat seine Lagerbestände erhöht.

Der Branchenverband VCI hält den „harten Brexit“ mittlerweile für das wahrscheinlichste Szenario. Dabei ist das Vereinigte Königreich einer der wichtigsten Handelspartner der deutschen chemisch-pharmazeutischen Industrie außerhalb der EU.

So hofft die Branche, dass Großbritannien und die EU zumindest ihre Chemikalienregulierung einheitlich gestalten und gegenseitig anerkennen. Denn müsste jede Chemikalie künftig separat in der EU und in Großbritannien registriert werden, käme dies die Branche teuer zu stehen.

Allein bei BASF wären davon 1300 verschiedene Chemikalien betroffen, was nach Firmenangaben rund 70 Millionen Pfund kosten würde. In der Folge würden manche Chemikalien vom britischen Markt verschwinden, prognostizierte Neil Hollis, zuständig für regulatorische Angelegenheiten bei BASF in Großbritannien.

Banken rechnen fest mit einem harten Brexit

In der Frankfurter Finanzbranche rechnet die Mehrheit der Entscheider inzwischen mit einem harten Bruch zwischen Großbritannien und der EU, der ab Januar neue Zölle und Handelshemmnisse mit sich bringen dürfte. Heinz Hilger, Deutschlandchef der britischen Großbank Standard Chartered, hält dies für das wahrscheinlichste Szenario: „Die einzig verbleibende Resthoffnung nährt sich aus dem Blick in die Vergangenheit, weil wir ja schon mehrmals vor der Situation eines harten Brexits standen, der dann jeweils kurzfristig abgewendet wurde. Allerdings fehlen hierfür in dieser Situation die gesetzlichen Grundlagen.“

Die Finanzbranche wurde in den Freihandelsgesprächen ausgeklammert, deshalb würde ein No-Deal für die Banken und Investmentfirmen keinen großen Unterschied machen. „Die Finanzbranche wird so oder so stark betroffen sein vom Brexit. Selbst wenn es beim Freihandel noch eine Einigung gibt, wäre es sehr ungewöhnlich im Vergleich mit anderen Freihandelsabkommen, wenn diese auch Finanzdienstleistungen mit einbezieht“, sagt Tobias Vogel, Chef des europäischen Investmentbankings der Schweizer Großbank UBS. „Große Verbesserungen würde ich hier in Kürze nicht erwarten.“

Im Januar verlieren britische Banken und andere Finanzdienstleister ihre „Passporting-Rechte“, die ihnen Geschäfte in der ganzen EU erlauben. Künftig gilt für sie das Äquivalenzregime der EU für Drittstaaten.

Das bedeutet, dass Brüssel das britische Regelwerk in bis zu 40 verschiedenen Finanzbereichen erst als gleichwertig anerkennen muss, bevor britische Firmen ihre EU-Kunden aus London heraus bedienen können. Bislang hat die EU nur eine 18-monatige Übergangsregelung für Clearinghäuser verkündet. Die Londoner City hofft, dass weitere Äquivalenzentscheidungen getroffen werden, sobald das Freihandelsabkommen vereinbart ist.

Ein Scheitern der Verhandlungen könnte dazu führen, dass sich der Genehmigungsprozess der EU in die Länge zieht, wird in London befürchtet. Die EU-Kommission hat bereits signalisiert, dass Investmentfirmen erst Mitte 2021 mit einer Äquivalenzentscheidung rechnen können.

Die großen Banken und Fondsgesellschaften haben daher allesamt EU-Töchter gegründet, um ihre EU-Kunden weiter bedienen zu können. „Allerdings gibt es bei der Umsetzung noch eine ganze Reihe von praktischen Fragen zu klären, nicht alle aufsichtsrechtlichen Anforderungen scheinen bislang im Detail klar zu sein“, mahnt der Verband der Auslandsbanken in Frankfurt.

Die meisten Banken haben die deutsche Metropole als Standort gewählt, die Fondsbranche konzentriert sich in Dublin und Luxemburg. Laut dem Beratungshaus EY wurden bisher 7500 Arbeitsplätze und Kundengelder in Höhe von 1,2 Billionen Pfund aus Großbritannien in die EU verlagert.

EY rechnet damit, dass sich der Prozess zum Jahresende hin noch beschleunigt, wenn Finanzfirmen ihre Brexit-Pläne umsetzen. Die UBS hat mit der Stärkung der Europa-Einheit in Frankfurt bereits eine niedrige dreistellige Zahl an Mitarbeitern verlagert. Zuletzt hatte die US-Bank JP Morgan 200 Milliarden Euro an Vermögenswerten von London nach Frankfurt transferiert – Finanzkreisen zufolge als Teil der allgemeinen Brexit-Vorbereitungen.

Zum einen betonen viele Banken, auf jedes Ergebnis der Brexit-Verhandlungen vorbereitet zu sein. „Wir glauben, wir sind für einen ‚harten‘ Brexit gut positioniert und können unsere Kunden im ganzen Brexit-Prozess unterstützen“, heißt es etwa von der größten britischen Bank HSBC. „Die Banken mussten sich längst auf den Worst Case einstellen, einen No-Deal-Brexit“, sagt auch UBS-Vorstand Vogel. „Sollte dieser am Ende tatsächlich kommen, trifft er die Branche nicht unvorbereitet.“

Zum anderen bleibt jedoch eine Restunsicherheit. Einigen sich London und Brüssel nicht, „befürchten wir Verwerfungen im Hinblick auf die Kapitalmärkte“, heißt es etwa von der Commerzbank. Diese würden vor allem EU-Banken treffen: „Wir hoffen auf eine politische Einigung, die Finanzinstituten aus der EU auch weiterhin Geschäfte an den britischen Märkten erlaubt.“

Doch auch die britischen Banken müssen sich für verlorenes Geschäft wappnen: Manche Geschäfte werden für sie künftig gar nicht mehr möglich sein. So haben die Großbanken Lloyds und Barclays bereits Zehntausende Kunden in der EU benachrichtigt, dass ihre Konten und Kreditkarten bis zum Jahresende geschlossen werden. Um sie fortzuführen, müssten die Banken bis zu 27 nationale Lizenzen in den einzelnen EU-Ländern beantragen. Das ist ihnen zu teuer.

Auch manche Londoner Fondsmanager bangen um ihr Geschäftsmodell: Sollte die EU-Kommission es künftig nicht mehr zulassen, dass sie ihre EU-Fonds aus London heraus verwalten, müssten sie nach Luxemburg oder Dublin ziehen oder auf das Geschäft verzichten.

Die Uhr tickt. „Wir haben sehr klare Vorstellungen darüber, was zwischen heute und dem Jahresende noch getan werden muss“, sagt Standard-Chartered-Chef Hilger. „Vieles hängt allerdings noch an der Mitwirkung eines Teils unserer Kunden, ohne die wir die letzten Schritte nicht gehen können.“

Streit um Zulassungen in der Luftfahrt

Für die Luftfahrtindustrie ist die aktuelle Situation bizarr. Einerseits hat die Corona-Pandemie den Betrieb nahezu zum Erliegen gebracht. Es wird nur noch wenig geflogen, neue Flugzeuge werden nicht abgenommen, geschweige denn bestellt. Angesichts dessen wären die kurzfristigen Folgen eines ungeregelten Brexits wahrscheinlich wirtschaftlich kaum spürbar.

Dennoch würde ein harter Brexit die Systematik des Marktes massiv verändern. Ohne Abkommen zwischen der EU und Großbritannien verlieren alle Zertifikate, Zulassungen und Verkehrsrechte ihre Gültigkeit. Piloten, die in Großbritannien ihre Ausbildung gemacht haben, dürften mit ihrer Lizenz nicht in Europa fliegen. Linienflüge zwischen Großbritannien und Europa wären nicht mehr möglich.

Hinzu käme: Flugzeuge, in denen Teile verbaut wurden, die in Großbritannien gefertigt wurden, müssten am Boden bleiben, weil die Zulassung fehlt. Die britische Regierung hat deshalb angekündigt, dass die bisherigen Genehmigungen, die in Europa erteilt wurden, in Großbritannien auch bei einem harten Brexit Bestand haben sollen.

Die EU aber ist dazu nicht bereit – bisher jedenfalls. Sie hat darauf hingewiesen, dass britische Zulassungen nicht mehr gelten werden und britische Unternehmen beziehungsweise in Großbritannien gefertigte Teile eine sogenannte Drittlandgenehmigung benötigen.

Eine heikle Situation, etwa für Airbus. Der Konzern lässt bisher die Flügel für alle Verkehrsflugzeuge – mit Ausnahme der in China endmontierten Jets – in Großbritannien bauen. Von dort gehen sie zur weiteren Ausrüstung nach Bremen und werden dann auf die einzelnen Endmontagelinien verteilt. Entsprechend alarmiert ist man in der Konzernzentrale in Toulouse.

Man bleibe in Sorge wegen des Risikos, Ende Dezember kein Handelsabkommen zu haben, heißt es dort. Der existierende Brexit-Notfallplan rückt damit in Toulouse wieder nach oben auf die Agenda – mit wöchentlichen Sitzungen des Brexit-Krisenmanagements.

Zudem hat der Konzern einige Millionen Euro in den Aufbau von Lagerbeständen in Europa investiert, um mögliche Lieferengpässe kompensieren zu können. Gleichzeitig hofft man weiter, dass die Politik eine Lösung finden wird. Nur wenn die Unklarheiten beseitigt würden, könne Airbus für die Zukunft planen. „Die Gestaltung der künftigen Beziehung zwischen der EU und Großbritannien“, heißt es in Toulouse, „ist für Airbus und die Mitarbeiter entscheidend.“

Deutlich weniger dramatisch dürften die Folgen eines harten Brexits dagegen für Lufthansa sein. Die Airline hat vor Corona zwar zahlreiche Flüge zwischen der EU und Großbritannien angeboten. Doch in Summe machte dieses Geschäft weniger als sechs Prozent des Umsatzes aus, wobei die Verbindungen vor allem für Geschäftsreisende gedacht waren. Wegen Corona ist nicht absehbar, ob dieser Markt jemals wieder zu alter Stärke zurückkehren wird.

Problematisch könnte allerdings das Thema Flotte werden. Lufthansa ist ein großer Kunde von Airbus. Deshalb müsste die Airline bei einem harten Brexit genau schauen, inwieweit in ihren Jets Teile aus Großbritannien verbaut wurden – und für entsprechende Genehmigungen sorgen.

Selbst die Deutsche Bahn, deren Geschäftsaktivitäten man eher im inländischen Bahnverkehr vermutet, bliebe von einem harten Brexit nicht unberührt. „Ein ungeregelter Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hätte eindeutig negative wirtschaftliche Konsequenzen für die britische Konjunktur, das Wirtschaftswachstum und die durch mehr Unsicherheit geprägten Handelsbeziehungen“, sagt ein Sprecher der Deutschen Bahn und fügt hinzu: „Diese Auswirkungen auf die Allgemeinwirtschaft dürften auch das Geschäft des DB-Konzerns in Großbritannien treffen.“

Der Staatskonzern macht 3,8 Milliarden Euro Umsatz mit den Briten, das sind neun Prozent des gesamten Konzerngeschäfts. Großbritannien ist damit für die DB ein wichtiger Markt. Betroffen sind die Bahn-Güterverkehrstochter DB Cargo, der Speditionskonzern DB Schenker und die Personenverkehrstochter Arriva. Das operative Risiko mindert allenfalls, dass Umsätze und Kosten überwiegend im gleichen Währungsraum anfallen.

Wirklich bedauern dürfte die Bahn die Trennung von der EU tatsächlich aus einem anderen Grund. Ihre Auslandstochter Arriva mit Firmensitz auf der Insel betreibt Bahn- und Buslinien in ganz Europa. Und machte damit zuletzt 5,3 Milliarden Euro Umsatz. Arriva sollte längst verkauft sein. Ein Plan, der an Bewertungsproblemen scheiterte und jetzt auch wegen der Coronafolgen vorerst abgeblasen ist.

Schon der zwischenzeitlich avisierte Börsengang an einer europäischen (Festlands-)Börse wie Amsterdam dürfte nach dem Austritt der Briten schwierig werden, erst recht nach einem chaotischen. Einziger Trost: Fällt das britische Pfund, fallen die Sanierungszuschüsse aus der deutschen Konzernzentrale (umgerechnet in Euro) kleiner aus.

In einem sorgt die Bahn schon jetzt vor. Sie überprüft alle Finanzierungsinstrumente, die bislang über London liefen – etwa solche, die sie zur Absicherung nutzt. Einige lässt sie einfach auslaufen, andere werden vorsorglich umgeschichtet auf Banken in Kontinentaleuropa.

Lebensmittel-Industrie arbeitet mit detaillierten Notfallplänen

Ein No-Deal-Brexit würde sich erheblich auf den Lebensmittel- und Getränkesektor auswirken. Das zeigt eine gerade vorgelegte Studie der LSE Consulting im Auftrag der Molkereigenossenschaft Arla Foods. Im Fall eines harten Brexits würden die durchschnittlichen Zölle für EU-Exporte von Nahrungsmitteln nach Großbritannien von null auf 17,7 Prozent steigen. Der Zollsatz wäre mehr als viermal so hoch wie in anderen Sektoren.
Auf britischer Seite ist es der sogenannte UK Global Tariff, der ohne Abkommen in Kraft tritt, aufseiten der EU wäre es der europäische Zolltarif Taric. „Das verteuert Produkte, senkt Gewinnmargen und kostet möglicherweise Marktanteile“, warnt Sylvia Trage, Lieferketten-Expertin bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Auch seien Auswirkungen auf Intercompany-Transporte denkbar, was insbesondere multinational aufgestellte Unternehmen träfe.

Auch Arla sieht sich als potenzieller Verlierer. „Dies würde etwa unseren Topseller, die Frischkäseprodukte Skyr aus unserem Werk Upahl in Mecklenburg-Vorpommern, betreffen“, heißt es dort. „Die Verbraucherpreise würden steigen, allerdings ohne für uns als Produzenten oder unsere Landwirte als Eigentümer der Genossenschaft einen Mehrwert zu schaffen.“

Die Molkereigenossenschaft mit 2000 Mitarbeitern und 1850 Landwirten allein hierzulande fürchtet, dass es bei Frischware zu langen Wartezeiten an den Grenzen kommt. Die Folge: Produkte könnten nicht rechtzeitig beim Händler sein und wegen ihrer stark begrenzten Haltbarkeit nicht mehr angenommen werden.

Arla arbeitet deshalb an Alternativrouten und detaillierten Notfallplänen. In Großbritannien ist Arla Foods mit Stammsitz in Dänemark das größte Molkereiunternehmen – auch mit Exporten in die EU wie Cheddar-Käse.