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Die Coronakrise trifft den Arbeitsmarkt: „Kombination aus Virus, Struktur- und Konjunkturkrise“

Die Behörde von Detlef Scheele ist im Ausnahmezustand. Der Chef der Arbeitsagentur spricht im Interview über die Herausforderungen der Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit in Corona-Zeiten.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht in einer Vorausschau davon aus, dass wegen der Corona-Pandemie die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um zwei Prozent zurückgehen und die Zahl der Arbeitslosen um 90.000 steigen könnte. In einem Negativszenario könnte das Bruttoinlandsprodukt sogar um fast fünf Prozent einbrechen.

Dann, so warnt die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit (BA), könnte die Zahl der Arbeitslosen auf drei Millionen steigen. Wie Betroffenen in der Krise geholfen werden soll und was Corona für seine Behörde mit ihren rund 100.000 Mitarbeitern bedeutet, erläutert BA-Chef Detlef Scheele im Interview.

Herr Scheele, was macht die Corona-Pandemie aus Arbeitsmarktsicht gefährlicher als die Finanzkrise 2008/09?
Wir erleben eine Kombination aus Virus, Struktur- und Konjunkturkrise. Anders als in der Finanzkrise können wir ja auch nicht mehr konsumieren, Kneipen und Geschäfte sind zu, Fluglinien bleiben am Boden, der Tourismus geht in die Knie. Heute sind Branchen mit Hunderttausenden Beschäftigten betroffen, die früher nie mit Kurzarbeit zu tun hatten.

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Die Kurzarbeit geht schon durch die Decke?
Vergangene Woche haben knapp 77.000 Betriebe Kurzarbeit angezeigt, das ist eine enorme Zahl. Ende 2019 gab es bei konjunktureller Schwäche etwa 1000 Anzeigen pro Woche.

Das Arbeitsministerium rechnet mit gut zwei Millionen Kurzarbeitern …
Die Frage ist doch, ob wir hier über ein Quartal reden oder über das ganze Jahr. Haben wir eine V-förmige Erholung oder erleben wir eine Krise, die sich vom zweiten Quartal bis Ende Dezember fortsetzt? Mehr als zwei Millionen Kurzarbeiter im Jahresschnitt – das wäre eine enorme Belastung.

Geht Ihre Behörde unter dieser Last finanziell in die Knie?
Wir haben 26 Milliarden Euro Rücklage, wenn wir im Jahresschnitt tatsächlich zwei Millionen Kurzarbeiter hätten, kann uns das einige Milliarden kosten. Aber genau für so einen Fall ist die Rücklage auch da. Und wenn sie ausgegeben ist, müssen wir eben mit einem Bundeszuschuss arbeiten. Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld werden wir immer bezahlen, niemand muss fürchten, dass kein Geld mehr da ist.

Der Arbeitslosenversicherungsbeitrag ist zum Jahresanfang gesenkt worden. Muss er jetzt wieder rauf?
Ich glaube, dass eine Diskussion über den Beitrag im Augenblick zur Unzeit käme. Jetzt lassen Sie uns mal erst das Geld ausgeben und den Leuten helfen. Die Politik wird die BA nicht allein lassen, sollte unsere Rücklage aufgebraucht sein.

Die Situation ist sehr unterschiedlich, Gastronomen und Hotels müssen auf behördliche Anordnung schließen, Autohersteller entscheiden sich von sich aus für einen Produktionsstopp. Haben alle Anspruch auf Kurzarbeitergeld?
Ja, wenn es sich um einen wirtschaftlich unabwendbaren Produktionsausfall handelt, kann Kurzarbeitergeld gezahlt werden. Und angesichts der Dramatik sehen wir gar keine andere Möglichkeit, als jetzt rasch und unbürokratisch möglichst vielen Firmen zu helfen.

Wie stark wird die Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt durchschlagen?
Das ist seriös noch nicht zu sagen. Unser Forschungsinstitut IAB rechnet in einer aktuellen Vorausschau mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um zwei Prozent und 90.000 Arbeitslosen mehr im Jahresdurchschnitt. Bei einem absoluten Negativszenario mit einem Einbruch um 4,7 Prozent könnte die Zahl der Arbeitslosen vorübergehend drei Millionen erreichen, sagen unsere Forscher. In jedem Fall werden wir auch im nächsten Jahr erhöhte Zahlungen bei Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld haben.

Mit dem Kurzarbeitergeld deckt der Staat 60 Prozent oder – bei Beschäftigten mit Kindern – 67 Prozent des Nettoeinkommens ab. Gewerkschaften sagen, Geringverdiener kommen damit nicht über die Runden. Brauchen wir eine Aufstockung?
Die Frage, ob es hier zu einer generellen Lösung kommt, muss die Politik beantworten. Wenn die Sozialpartner in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen das Kurzarbeitergeld aufstocken, dann begrüßen wir das, weil es dem einzelnen Menschen hilft und möglicherweise Last aus der Grundsicherung nimmt.

Was kommt denn auf die steuerfinanzierte Grundsicherung – also umgangssprachlich das Hartz-IV-System – zu?
Wenn das Kurzarbeitergeld nicht reicht, weil vielleicht der Lohn vorher zu niedrig war, dann springt die staatliche Grundsicherung ein, die im Zweifel auch die Kosten der Unterkunft trägt. Das ist alles unangenehm für den Einzelnen, aber das soziale Netz hält.

Alle, die nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und keine Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung erworben haben, fallen ohnehin auf die Grundsicherung zurück. Wie können Sie denen helfen?
Die Bundesregierung wird den Zugang zur Grundsicherung erleichtern, das hat sie zugesagt. Wir sehen dann befristet davon ab, das Vermögen, selbst genutztes Wohneigentum oder die Wohnungsgröße zu überprüfen. Wir werden in dieser Situation einen kleinen Selbstständigen, einen Künstler, einen Gastronomen, der Grundsicherung beantragen muss, nicht als erstes fragen, ob er noch Geld auf dem Konto hat. Niemand muss fürchten, dass die Krise, die für einige ohnehin existenziell ist, durch die Regeln in der Grundsicherung weiter verschärft wird. Wir wollen möglichst unbürokratisch helfen.

Virologen sagen, dass die Einschränkungen möglicherweise Wochen oder Monate dauern müssen, um Corona wirksam zu bekämpfen. Macht Ihnen das Sorgen?
Ich gehe davon aus, dass der Weg zur Arbeit weiter ausgenommen ist, selbst wenn es zu Ausgangssperren kommt. Aber was es für unser Zusammenleben bedeutet, wenn die Orte, wo wir uns gewöhnlich treffen, über mehrere Monate nicht öffnen dürfen, und Kneipen, Restaurants oder Geschäfte keinen Ertrag haben, das mag ich mir nicht vorstellen.

Corona ist auch für Ihre Behörde eine Herausforderung. Wie sollen Unternehmer Kurzarbeit beantragen, wenn sie nicht durchkommen?
Wir hatten am vergangenen Montag zwei Millionen Anrufversuche, in Spitzenzeiten 150 in einer Sekunde. Dass ein Telefonnetz da in die Knie geht, ist jedem einsichtig. Aber über die Woche hat sich die Situation stabilisiert, wir sind wieder besser erreichbar. Wir schalten zusätzliche Telefonkreise in jeder Arbeitsagentur. Außerdem appellieren wir an alle, unsere Online-Angebote zu nutzen, wo man auch Anträge auf Kurzarbeit stellen kann.

Schichten Sie personell um?
Mein großer Dank gilt all unseren Kolleginnen und Kollegen. Außerdem haben uns auch andere Behörden, zum Beispiel das Flüchtlingsamt BAMF und die Deutsche Rentenversicherung Bund Unterstützung zugesichert. Regional haben uns viele Kammern ihre Hilfe angeboten, zum Beispiel mit Mitarbeitern mit juristischen Kenntnissen oder Verwaltungserfahrung. Da steht Deutschland schon zusammen.

Es steht ja nicht zu erwarten, dass Sie etwa in den Jobcentern rasch zum normalen Geschäftsbetrieb mit Kundenkontakt zurückkehren, oder?
Wir müssen unsere Mitarbeiter und die Kunden schützen, die nicht in großen Gruppen im Wartebereich sitzen sollen. Aber dass der persönliche Kontakt eingeschränkt ist, heißt ja nicht, dass wir nicht arbeiten. Der Antrag auf Weiterbewilligung der Grundsicherung und Veränderungsmitteilungen sind beispielsweise online möglich, ebenso der Antrag auf Arbeitslosengeld und viele weitere Anliegen.

Landwirte machen sich Sorgen, dass sie für die anstehende Pflanz- und Erntesaison keine Arbeitskräfte bekommen. Können Sie helfen?
Ausländische Saisonkräfte mit Arbeitsvertrag dürfen weiter ins Land kommen.

Viele haben aber Sorge, dass sie nicht zurückkönnen zu ihren Familien. Sie bleiben lieber weg.
Genau, aber ich sehe hier keine generelle Lösung. Ich weiß, dass unsere Regionaldirektionen in landwirtschaftlichen Regionen etwa in Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg versuchen, lokal Erntehelfer zu akquirieren. Aber sich jetzt generell an Arbeitslose zu wenden, da bin ich skeptisch. Das hat auch früher nicht funktioniert.

Herr Scheele, vielen Dank für das Interview.