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Warum vielen deutschen Unternehmen die Pleite droht

Staatliche Hilfen überdecken bislang, dass Tausende deutsche Unternehmen faktisch pleite sind. Kommt im Herbst die größte Insolvenzwelle seit Kriegsende?

Bis zum 30. September hat die Bundesregierung die Pflicht zur Insolvenzanmeldung ausgesetzt. Foto: dpa
Bis zum 30. September hat die Bundesregierung die Pflicht zur Insolvenzanmeldung ausgesetzt. Foto: dpa
  • Tausenden Firmen in Deutschland droht laut Experteneinschätzung in den nächsten Monaten die Pleite. Auch 2021 wird sich die Lage kaum verbessern.

  • Durch das sogenannte Schutzschirmverfahren haben viele notleidende Unternehmen einen Anreiz, sich möglichst rasch zu sanieren. Doch wenn die Sanierung scheitert, folgt die Insolvenz.

  • Maschinenbau, Autozulieferer, Einzelhandel, Gastronomie, Touristik und Messen: In diesen Branchen ist die Furcht vor der Pleite besonders groß.

  • Arndt Geiwitz, der ehemalige Insolvenzverwalter von Schlecker und Generalbevollmächtigte bei Karstadt Kaufhof, rechnet mit steigenden Insolvenzanmeldungen. Im Interview mit dem Handelsblatt kritisiert er die fehlende Kultur des Scheiterns in Deutschland.

Seit beinahe 120 Jahren wird bei der Firma Dieckerhoff im südlichen Ruhrgebiet Eisen gegossen. Heinrich Dieckerhoff hat in Gevelsberg zwischen Hagen und Wuppertal im Jahr 1900 die erste Gießerei aufgebaut – vornehmlich für die Ausrüstung des Bergbaus. Heute ist Dieckerhoff Gussteile-Spezialist für die Autoindustrie. Abgaskrümmer, Turboladergehäuse oder Federträger liefert das Unternehmen mit seinen 230 Mitarbeitern an Audi, Daimler und den Lkw-Hersteller Iveco.

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Dieckerhoff, über eine Zwischenholding im Besitz des Stahlherstellers Georgsmarienhütte, hat schon einige Krisen überlebt. Bereits die Konjunkturschwäche Ende 2019 bekam der Autozulieferer zu spüren. Dann kam Corona. Weil nach dem Lockdown die Bänder der Kunden stillstanden, brach auch bei den Gevelsbergern das Geschäft ein.

Ende Juni trat Geschäftsführer Marc-Oliver Arnold vor die Belegschaft und verkündete, dass das Unternehmen in einem sogenannten Schutzschirmverfahren saniert werden muss. Schutzschirm – das klingt nach Hoffnung, vor allem für die Beschäftigten. Hoffnung, dass ihr Arbeitgeber nur etwas Zeit und Hilfe braucht, um wieder Tritt zu fassen.

Das erst wenige Jahre alte Schutzschirmverfahren soll notleidenden Unternehmen Anreiz geben, sich möglichst rasch zu sanieren. Sie sollen nicht warten, bis es zu spät ist, bis die Schulden sie erdrücken oder kein Geld mehr da ist – und damit ein reguläres Insolvenzverfahren eingeleitet werden muss.

„Wir haben uns aktiv für diesen Weg entschieden, um die gegenwärtige Krisenlage zu bewältigen und den notwendigen Restrukturierungsprozess entscheidend voranzutreiben“, sagt Diekerhoff-Geschäftsführer Arnold. Scheitert allerdings die Sanierung, bleibt letztlich doch nur das reguläre Insolvenzverfahren.

Ein Schicksal, das etwa ab dem dritten Quartal Tausenden Firmen droht. Laut den Prognosen des Kreditversicherers Euler Hermes, Spezialist für die Solvenzbewertung von Unternehmen, rollt eine beispiellose Pleitewelle auf die deutsche Wirtschaft zu. Und nicht nur auf die. Bis Ende 2021 geht Euler Hermes, eine Tochtergesellschaft des Allianz-Konzerns, von einem Anstieg der globalen Insolvenzen um mehr als ein Drittel im Vergleich zu 2019 aus.

Deutschland kommt dabei zwar besser weg als etwa die USA, die schon jetzt „im Epizentrum der Insolvenzwelle“ sind. Aber auch hierzulande rechnen Experten damit, dass die Zahl der Pleiten bis Ende 2021 um insgesamt zwölf Prozent auf dann etwa 21.000 Fälle zunehmen wird.
Laut einer Umfrage des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo von Anfang Juli sieht sogar jedes fünfte deutsche Unternehmen seine Existenz durch Corona gefährdet. In der Folge drohen steigende Arbeitslosenzahlen, sinkende Steuereinnahmen und Kreditausfälle bei den Banken. Alles Faktoren, die eine schnelle wirtschaftliche Erholung zunichtemachen können.

Noch halten staatliche Hilfen und Ausnahmeregelungen viele Firmen über Wasser. Momentan liegt de Zahl der Insolvenzen in Deutschland daher sogar niedriger als im Vorjahr. Doch die Wochen des Lockdowns haben in vielen Branchen die Unternehmensbilanzen irreparabel geschädigt. In anderen Branchen, etwa Flugverkehr und Tourismus, ist eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen noch Monate, womöglich Jahre entfernt.

Sobald die staatlichen Stützstreben wegfallen, droht auf die Krankheitswelle eine Pleitewelle zu folgen. Ebenso wie das Coronavirus selbst werden die Insolvenzen dabei vor einzelnen Ländern, Branchen und Unternehmen nicht haltmachen. „Es kann jeden treffen“, sagt Ron van het Hof, Chef von Euler Hermes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dem Handelsblatt. „Teilweise auch Unternehmen, die gesund waren.“

Je länger die staatlichen Schutzschirme aufgespannt bleiben, desto drängender stellt sich auch die Frage: Wie lange kann der Staat Unternehmen vor der Pleite schützen? Wie stark darf er in das Marktgeschehen eingreifen, zu dem es nun einmal auch gehört, dass schwache Unternehmen in Krisenzeiten verschwinden?

1. Ruhe vor dem Sturm

Bei der Lufthansa, vor Corona Europas größte Fluggesellschaft, hat sich die Bundesregierung fürs Eingreifen entschieden. Quasi über Nacht stand ab März fast die gesamte Flotte still, was zu einem Verlust von einer Million Euro pro Stunde führte. Im Ringen um das neun Milliarden Euro schwere Rettungspaket des Bundes musste der Vorstand um Lufthansa-Chef Carsten Spohr, stets stolz auf die solide Bilanz der Airline, sogar die Option einer Schutzschirminsolvenz durchspielen.

Besonders heikel ist die Lage für Unternehmen in Branchen, die schon länger unter Druck sind. Wie in der Luftfahrt, wie aber auch bei vielen Modeketten, die seit Jahren mit geringen Margen, hohem Wettbewerb und Strukturwandel kämpfen. Appelrath-Cüpper und die Tom-Tailor-Holding sind bereits insolvent.

Galeria Karstadt Kaufhof und Esprit sind unter den Schutzschirm geschlüpft und nutzen nun das Verfahren, um sich von Filialen und Mitarbeitern zu trennen. Vor allem Galeria Karstadt Kaufhof ist ein trauriges Beispiel für ein Unternehmen, das einfach nicht aus den roten Zahlen kommt. Bis in die 1980er florierten die beiden damals noch getrennten Warenhausketten. Dann begann der schleichende Niedergang. Auch der Zusammenschluss brachte keine Rettung.

Es trifft nicht nur den Einzelhandel. „Auch der Motor der Automobilindustrie stotterte schon vor Covid-19“, so van het Hof. Ähnliches gilt für den Maschinenbau, der wiederum die Autobranche beliefert. Dazu kommen Unternehmen in Gastronomie und Tourismus, denen im Lockdown die Umsätze weggebrochen sind.

Meist geht es um Firmenschicksale, die nur selten Schlagzeilen machen. So zum Beispiel das der Messebaufirma Rendel mit ihren neun festen Mitarbeitern. Seit März sind Messen pandemiebedingt untersagt. „Das Berufsverbot ist für unsere Branche eine Katastrophe. Wir haben keinerlei Aufträge mehr“, sagt Rendel-Geschäftsführerin Michaela Kupper. Im Mai stellte Kupper für ihr Unternehmen den Insolvenzantrag. Es sind vor allem kleinere Firmen und Mittelständler, die um ihre Zukunft bangen, denn sie haben in der Regel eine deutlich geringere Eigenkapitalquote als Großkonzerne.

Die Banken müssen „in den kommenden Quartalen Corona-bedingt mit einem steigenden Volumen an Kreditausfällen rechnen“, sagt Felix Hufeld, Chef der Finanzaufsicht Bafin. „Alles andere wäre naiv.“ Die Ratingagentur Standard & Poor’s prognostiziert weltweit in diesem und im nächsten Jahr Kreditverluste von 2,1 Billionen Dollar, davon dürften allein 1,3 Billionen auf 2020 entfallen – mehr als doppelt so viel wie 2019.

Durch die Insolvenzen stehen zudem Hunderttausende Jobs auf dem Spiel. Das bundeseigene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht davon aus, dass die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland in diesem Jahr im Schnitt um gut eine halbe Million höher liegen wird als im vergangenen.

Die Pleitewelle kommt mit Zeitverzug, weil sich viele Unternehmen bislang mit Staatshilfen und Kurzarbeit über Wasser halten. Es wird damit gerechnet, dass in diesem Jahr durchschnittlich 2,2 Millionen Menschen in Kurzarbeit sein werden. Noch schwerer als Staatshilfe und Kurzarbeit wiegt aber, dass mit dem Lockdown im März die Bundesregierung die Pflicht zum Insolvenzantrag aufgehoben hat. Normalerweise muss eine überschuldete oder zahlungsunfähige Firma binnen drei Wochen Insolvenz beantragen. Jetzt braucht sie das nicht, wenn sie nachweisen kann, dass sie durch Corona in die missliche Lage geraten ist und Aussicht auf Rettung besteht.

Es ist eine Wette auf eine schnelle und durchgängige Erholung der Wirtschaft. Sollte es anders kommen, müssten die Insolvenzanträge nachgeholt werden. Das hätte auch weiter sinkende Gewerbesteuereinnahmen und steigende Ausgaben für das Arbeitslosengeld zur Folge.

„Als Ruhe vor dem Sturm“ bezeichnet denn auch van het Hof die momentane Lage: „Wir haben eine tickende Zeitbombe, die spätestens im dritten Quartal des Jahres losgehen wird.“

Auch der Informationsdienst Creditreform, Spezialist für Unternehmensdaten, warnt davor, sich von den aktuellen Zahlen blenden zu lassen. Trotz der Coronakrise verringerte sich die Zahl der Insolvenzen in der Bundesrepublik im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zwar um 8,2 Prozent auf 8900 Fälle. Doch das Insolvenzgeschehen habe sich von der tatsächlichen Situation der deutschen Unternehmen abgekoppelt, heißt es bei Creditreform.

2. Angst vor Zombie-Unternehmen

Staatshilfen, Kurzarbeit und die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht sind keine Lösungen auf Dauer. Wirtschaftsverbände und Unternehmen fordern deshalb Veränderungen im Insolvenzrecht. Es soll an die Ausnahmesituation durch Corona angepasst werden. Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), ist überzeugt: Viele Firmen könnten mit rechtzeitigen Sanierungsmaßnahmen, die weit vor einem Insolvenzverfahren greifen, gerettet werden, aber: „Bislang ist das Insolvenzrecht hierauf nicht gut eingestellt.“

Wirtschaftsvertreter werfen der Bundesregierung vor, der Bedrohung planlos gegenüberzustehen. „Eine riesige Insolvenzwelle rast im Herbst auf uns zu, wenn der Gesetzgeber nicht rechtzeitig aktiv wird“, warnt Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbands „Die Familienunternehmer“. „Alle Alarmglocken sollten schrillen. Das Insolvenzrecht muss angepasst werden.“

Dass die Bundesregierung das Aussetzen der Pflicht zur Insolvenzanmeldung über den 30. September hinaus verlängert, ist eine naheliegende Option. Eine Entscheidung über die Fortführung der Regelung werde „unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte rechtzeitig getroffen werden“, heißt es aus dem Bundesjustizministerium.

Doch Insolvenzrechtler zeigen sich skeptisch. Die Gesetzesänderung sei wichtig und richtig, aber nur eine Beruhigungspille, sagt Lucas Flöther. Er ist Vorsitzender des Gravenbrucher Kreises, der Vereinigung der wichtigsten Sanierungsexperten in Deutschland. Einen Namen machte er sich unter anderem als Insolvenzverwalter von Air Berlin. Flöther meint: Die Antragspflicht sei aus gutem Grund nur begrenzt ausgesetzt worden. Es dürften keine „Unternehmenszombies“ am Leben erhalten werden.

Und in diese Kategorie gehören allein in der Euro-Zone laut Euler Hermes circa 13.000 Firmen mit Umsätzen von rund 500 Milliarden Euro. Für viele, „die sich durch die anhaltende Niedrigzinsphase gerade noch über Wasser halten konnten, wird die Luft jetzt sehr dünn“, so Deutschlandchef van het Hof.

Das gilt zum Beispiel für den Felgenbauer BBS aus dem Schwarzwald, der Mitte Juli Insolvenz anmeldete. Für das Unternehmen, auf dessen Felgen einst Michael Schumacher zu Rennsiegen fuhr, ist es bereits der dritte Insolvenzantrag nach 2007 und 2010. Einmal lag es an der Finanzkrise, einmal an hohen Aluminiumpreisen, nun soll Corona schuld sein.

Auch Arndt Geiwitz, der als Insolvenzverwalter von Schlecker bekannt wurde und gerade bei Galeria Karstadt Kaufhof als Generalbevollmächtigter im Einsatz ist, hält eine Verlängerung der bestehenden Ausnahmeregelung nur bei Überschuldung für angebracht. Ein Unternehmen, das zahlungsunfähig sei, könne nicht überleben, die Situation sei für alle unzumutbar, so Geiwitz im Handelsblatt-Interview: „Ich vergleiche das gern mit einem Patienten, der ein Raucherbein hat. Der Arzt kann ihm immer wieder Morphium verschreiben, aber das wird ihn nicht heilen. Helfen kann nur die Amputation.“

Er verweist auch darauf, dass schon das bestehende Gesetz angeschlagenen Unternehmen gute Möglichkeiten bietet, wieder auf die Beine zu kommen. Etwa das 2012 von der Bundesregierung verabschiedete „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“, kurz ESUG.

Mit dem Gesetz wurden zwei neue Wege zur Rettung von Unternehmen eröffnet: die Insolvenz in Eigenverwaltung und das Schutzschirmverfahren. Beide sollen ermöglichen, dass Firmen in Not nicht zur Verwertung an den Insolvenzverwalter übergeben werden müssen, sondern die Sanierung zunächst mit dem bestehenden Management erfolgen kann.

3. Die Grenzen der Staatshilfe

Eine Art Vorbild für den Schutzschirm ist das Insolvenzverfahren nach Chapter 11 in den USA. Delta Airlines beendete das Verfahren 2007 mit 50 Prozent weniger Schulden, 6000 abgebauten Stellen und drei Milliarden Dollar an eingesparten Kosten pro Jahr. General Motors sanierte sich nach der Finanzkrise ebenfalls über Chapter 11.

Auch in den USA wird in den kommenden Monaten eine Welle von Insolvenzen erwartet. Die Einzelhändler Neiman Marcus, J. Crew, Dean & De Luca und JC Penney haben bereits Gläubigerschutz nach Chapter 11 beantragt, ebenso die Autovermietung Hertz. Viele könnten folgen.

Anders als Chapter 11 in den USA wurde das Schutzschirmverfahren in Deutschland über Jahre kaum angewandt. Das hat sich mit Corona geändert. In den seit März eröffneten Verfahren überwiegt dieser Weg des Insolvenzrechts. Er bietet den Unternehmen einige Vorteile.

Zum einen für die Darstellung nach außen: „Klingt der Begriff des Insolvenzverfahrens in der deutschen Meinungslandschaft doch allzu sehr nach Zerschlagung oder Auflösung, so fällt es den Unternehmen in der Außenkommunikation scheinbar leichter, den Begriff des ,Schutzschirms‘ zu kommunizieren“, sagt Rechtsanwalt Dirk Obermüller, Partner beim Bonner Beratungsunternehmen DHPG. Letztlich sei aber auch der Schutzschirm ein Insolvenzverfahren, für das beim Insolvenzgericht ein Antrag gestellt werden müsse.

Wichtiger als die Kommunikation dürfte für viele Unternehmer sein, dass sie mit dem Schutzschirm viele Freiheiten behalten. Der Geschäftsbetrieb wird ohne größere Einschränkungen fortgeführt. Binnen drei Monaten muss mit externen Experten ein Sanierungsplan erarbeitet werden. In dieser Phase hat das Unternehmen Sonderrechte, etwa was Vertragskündigungen angeht. Damit kann auf Gläubiger, Vermieter und Lieferanten Druck ausgeübt werden, um sie zu Zugeständnissen zu bewegen.

Gelingt die Sanierung, kann die Firma den Insolvenzantrag zurückziehen. Ansonsten ist der unter dem Schutzschirm erstellte Sanierungsplan Grundlage für das dann folgende Insolvenzverfahren in Eigenregie.

Den Schutzschirm können aber nicht alle angeschlagenen Unternehmen nutzen. Ein Fachmann muss bescheinigen, dass eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung droht, aber nicht vorliegt. Experten befürchten, dass im Herbst oder im kommenden Jahr viele Unternehmen finanziell mit dem Rücken an der Wand stehen – und es dann zu spät für den Schutzschirm sein könnte, weil Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten sind.

Zumal die Probleme vieler Unternehmen mit dem Ende der akuten Coronakrise nicht verschwinden. Berater gehen davon aus, dass der Wettbewerb in vielen Branchen nach der Pandemie wesentlich härter sein wird.

„Viele Unternehmen müssen ihr Geschäftsmodell grundlegend überdenken und adaptieren“, sagt Euler-Hermes-Deutschlandchef van het Hof. „Das müssen sie erst einmal finanzieren, dazu brauchen sie Margen und eine Lösung für die Restrukturierungen ihrer Schuldenberge.“ Zusammen mit der digitalen Transformation seien dies die Variablen, die über die weitere Entwicklung der Insolvenzzahlen entschieden.

Gerade wegen der Schulden fürchten auch Unternehmensverbände und Wirtschaftspolitiker einen Anstieg der Insolvenzen ab dem Herbst. Denn die Verbindlichkeiten der Firmen sind durch Staatskredite in die Höhe geschnellt. Mittlerweile haben fast 76.000 Firmen und Selbstständige allein bei der staatlichen Förderbank KfW Anträge im Volumen von gut 50 Milliarden Euro gestellt. Fast 73.000 sind bereits genehmigt.

Die KfW betont, dass nur solche Firmen Hilfskredite erhalten, die nachweislich erst wegen der Coronakrise in Schwierigkeiten geraten sind. Das ist eine EU-Auflage. Doch während die Hausbanken Anträge für normale Coronakredite gründlich prüfen, gibt es beim KfW-Schnellkredit, bei dem der Staat für Summen von bis zu 800.000 Euro zu 100 Prozent haftet, nur eine sehr rudimentäre Prüfung durch die Hausbank.

Damit wollte die Bundesregierung gefährdeten Unternehmen einen möglichst raschen Weg zu Hilfen ebnen. Er rechne damit, dass jedes zehnte dieser Darlehen ausfallen werde, sagte ein Banker, der nicht genannt werden wollte. Das wäre eine etwa zehnmal so hohe Ausfallrate wie sonst im deutschen Kreditgeschäft üblich.

Nach einem regelrechten Run auf die KfW-Mittel hat die Nachfrage mittlerweile nachgelassen. „Insbesondere die größeren Firmen haben sich frühzeitig zusätzliche Liquidität gesichert, die kleineren Firmen sind tendenziell etwas später auf uns zugekommen und haben zum Teil erst einmal abgewartet“, sagt Andreas Wagner, Leiter des Förderkreditgeschäfts bei der Hypo-Vereinsbank.

In die Kritik gerät beim Thema Insolvenzrecht momentan vor allem das geltende Kriterium der Überschuldung. Die liegt dann vor, wenn die Verbindlichkeiten das Vermögen übersteigen. Die Geschäftsführung muss dann binnen drei Wochen Insolvenzantrag stellen, sonst macht sie sich wegen Verschleppung strafbar.

In diese prekäre Lage könnten Firmen kommen, die Corona-Hilfskredite erhalten haben, aber deren Geschäft noch nicht wieder läuft. Einhellig wird daher gefordert, die Überschuldung als Insolvenzgrund abzuschaffen und nur noch die Zahlungsfähigkeit heranzuziehen. „So könnten Insolvenzen jedenfalls einiger von im Kern gesunden Unternehmen vermieden werden“, sagt Familienunternehmer-Präsident Eben-Worlée.

Helfen könnte nach Ansicht von Steuerexperten auch ein ausgeweiteter Verlustrücktrag, mit dem Verluste im Geschäftsjahr 2020 mit Gewinnen aus vergangenen Jahren verrechnet werden könnten. Dadurch sinkt die Steuerlast von Unternehmen, die erst durch Corona in die roten Zahlen gerutscht sind.

In den USA hat die Regierung für die Krisenzeit den Verlustrücktrag auf fünf Jahre ausgedehnt und die Mindestbesteuerung ausgesetzt, wodurch die Verluste voll geltend gemacht werden können. Diesem Beispiel, meint Steuerexperte Wilhelm Haarmann, sollte die Bundesregierung folgen.

Nun hat sich der Berliner Politikbetrieb allerdings in die Sommerpause verabschiedet, ohne dass in Sachen neues Insolvenz- und Sanierungsrecht der große Wurf gelungen ist. Der CDU-Wirtschaftsrat schlug Alarm und verlangte etwa, „dass die EU-Restrukturierungsrichtlinie nun schnellstmöglich und nicht erst 2021 umgesetzt wird“.

Die Richtlinie sieht vor, dass kriselnde Firmen die Möglichkeit bekommen müssen, sich außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens zu sanieren. Ein formelles Insolvenzverfahren, wie es letztlich auch unter einem Schutzschirm der Fall ist, würde so verhindert.

Insolvenzverwalter Flöther geht davon aus, dass die Bundesregierung hier eine „große Lösung“ anbieten wird. Das Anfang Juni vorgelegte Koalitionsausschuss-Papier zu Corona lasse erkennen, dass die Brüsseler Vorgaben mit den Herausforderungen durch Covid-19 verbunden würden. Insolvenzexperten erwarten nicht nur die Umsetzung der EU-Richtlinie, sondern eine Neudefinition des umstrittenen Überschuldungsbegriffs und eine Reform des ESUG.

4. Jagd auf „Distressed Equity“

Während Unternehmensverbände und Gesetzgeber noch darum ringen, wie sich möglichst viele Insolvenzen abwenden lassen, geht eine ganz spezielle Branche auf Schnäppchensuche. „Distressed M & A“ nennt sich das Geschäft mit dem Kauf und Verkauf von angeschlagenen Unternehmen. Insbesondere Private-Equity-Fonds rüsten sich für die herbstliche Jagdsaison.

Die Finanzinvestoren haben sich in der Coronakrise bislang zurückgehalten mit neuen Firmenkäufen. Sie lauern auf Notverkäufe und niedrigere Preise, doch allzu lange können sie nicht mehr warten. Laut Informationsdienst Prequin sitzen die Beteiligungsmanager auf nicht investiertem Kapital von 1,48 Billionen Dollar weltweit.

„Die Private-Equity-Fonds werden tendenziell größer, das nicht investierte Kapital erhöht gleichzeitig den Anlagedruck“, sagt Joachim Ringer, Co-Leiter Investment Banking and Capital Markets Deutschland und Österreich bei der Credit Suisse. Finanzinvestoren suchten intensiv nach Gelegenheiten, so Ringer. „Aber es ist schwer, günstig bewertete Targets zu identifizieren, gerade unter den börsennotierten Gesellschaften.“

Das dürfte sich im Herbst und Winter ändern. „Auf Deutschland rollt im zweiten Halbjahr die größte Insolvenzwelle der Nachkriegsgeschichte zu. Typischerweise überleben finanziell angeschlagene Firmen noch einige Monate nach dem Einsetzen einer Krise, um dann vielfach in die Insolvenz zu schlittern“, erklärt ein Frankfurter Investmentbanker. Es werde in den nächsten sechs Monaten vor allem darum gehen, durch Notverkäufe zu retten, was noch zu retten ist.

Für Firmenjäger bringt die anrollende Pleitewelle günstige Kaufgelegenheiten, für Unternehmer und ihre Angestellten bedeutet sie vielfach eine persönliche Tragödie. Doch die Pflicht zum Insolvenzantrag lässt sich in einer Marktwirtschaft nicht unbegrenzt aussetzen.

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Schließlich geht es im Insolvenzrecht auch darum, die Ansprüche von Kunden und Gläubigern zu sichern. Und je stärker die Hilfen für Unternehmen ausgeweitet und verlängert werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Firmen unter die vermeintlichen Corona-Opfer mischen, die auch vor dem Lockdown kaum überlebensfähig waren.

„Es ist nun einmal schwierig, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen ‚wir retten jeden‘ und ‚wir retten niemanden‘“, sagt Hans-Werner Sinn. Der ehemalige Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) fürchtet: „Inzwischen hat der Staat des Guten zu viel getan. Das viele Geld veranlasst viele Unternehmen und Firmen, sich erst einmal auszuruhen, anstatt um die Kunden zu kämpfen.“

Davon kann beim insolventen Autozulieferer Dieckerhoff laut Geschäftsführer Arnold keine Rede sein. Er verspricht: „Qualität, Termin- und Liefertreue sind nach wie vor unser höchstes Gut. Daran wird sich nichts ändern.“

Mitarbeit: H. Anger, A. Dörner, D. Fockenbrock, P. Köhler, D. Neuerer, Y. Osman

Die staatliche Unterstützung hilft den meisten Firmen nur kurzfristig. Foto: dpa
Die staatliche Unterstützung hilft den meisten Firmen nur kurzfristig. Foto: dpa