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Corona als Brandbeschleuniger: TV-Doku über Jugendgewalt in Deutschland

Wenn unter Teenagern die Fäuste sprechen: Die Doku "Außer Kontrolle - Jugendgewalt in Deutschland" (ZDFmediathek) beleuchtet diverse Aspekte von Jugendgewalt. (Bild: ZDF / alamy / agenzia sintesi)
Wenn unter Teenagern die Fäuste sprechen: Die Doku "Außer Kontrolle - Jugendgewalt in Deutschland" (ZDFmediathek) beleuchtet diverse Aspekte von Jugendgewalt. (Bild: ZDF / alamy / agenzia sintesi)

Wenn sich Aggression oder Perspektivlosigkeit anstauen: Die schonungslose Doku "Außer Kontrolle - Jugendgewalt in Deutschland" zeigt jugendliche Täter und Opfer und beleuchtet auch die Rolle der Polizei.

Die Szenen der Überwachungskamera sind nur schwer zu verdauen. Der 20-jährige Christoph verlässt eine Disko in Ostfriesland, plötzlich kommt aus dem Nichts ein Jugendlicher angesprungen. Er schlägt ihm mit voller Wucht ins Gesicht, er knallt ungeschützt auf den harten Boden auf. Christoph erlitt Hirnblutungen, lag vier Monate im Koma. Dann kämpfte er sich zurück ins Leben, doch er wird für immer schwerbehindert bleiben. Heute ist Christoph 34 und erzählt in der sehenswerten Dokumentation "Außer Kontrolle - Jugendgewalt in Deutschland" von Filmautor Carsten Binsack seine Geschichte. Es ist die Geschichte eines Opfers, das genauso ebenfalls Täter hätte werden können.

Der Film über gewalttätige Jugendliche nimmt beide Perspektiven ein, geht der Frage nach, warum Teenagerinnen und Teenager ausrasten und begibt sich auf die komplexe Suche nach der Lösung. Aktuell ist der Beitrag, der vor einigen Tagen auf ZDFinfo linear ausgestrahlt wurde, in der ZDFmediathek abrufbar.

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Ein ehemaliger Täter wird auf dem Weg in ein geregeltes Leben begleitet: Tim - Name geändert - ist 20 Jahre alt und hatte lange seine Aggressionen nicht im Griff: "Dann gab's dort mal ein paar auf die Mappe oder dort mal ein paar auf die Mappe. Manchmal eben nur aus Spaß." Dieser Lebensstil brachte ihn bis ins Jugendgefängnis. "Im Jugendknast ist es ja ganz schlimm, da will sich ja jeder messen", so der ehemalige Gewalttäter. Doch für ihn gab es einen Ausweg - einen Strafvollzug in freier Form im "Seehaus Leipzig". Dort leben jugendliche Straftäter ohne Gitter gemeinsam in einer WG - mit einer Familie samt Kindern. Tim erhält Unterstützung von Pädagogen, Sozialarbeitern und Ausbildern. Er macht eine Lehre als Zimmermann.

Schlechte Zukunftsperspektiven und raues gesellschaftliches Klima

Dabei ist Tim nur ein Straftäter unter vielen, junge Männer sind fünfmal häufiger an Gewalttaten beteiligt als junge Frauen. Die Jugendgewalt in Deutschland nimmt jedoch grundlegend zu: Von 2018 bis 2019 stieg die Gewaltkriminalität unter 14 Jahren um 15,8 Prozent, von 14 bis unter 18 Jahren um 4,6 Prozent. Laut des Soziologen Dirk Baier spielen mehrere Faktoren eine Rolle: "Also ein zentraler Faktor ist, denke ich, dass die Zukunftsperspektiven von jungen Menschen sich allmählich wieder verschlechtern", sagt er in dem Film. Die Wahrscheinlichkeit auf den erfolgreichen Übergang von der Schule ins Arbeitsleben sei gesunken. "Ein anderer Punkt aus meiner Sicht ist, dass wir ein raueres gesellschaftliches Klima haben", so der Soziologe. Teenager würden weltweit sehen, dass sich Rücksichtslosigkeit durchsetze. Was rund um den Globus passiert, habe Einfluss auf die jungen Menschen hier im Land. Nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizisten in den USA, entfachte sich auch hierzulande eine Diskussion über Rassismus in der Polizei.

Was passiert, wenn sich Jugendgewalt in einer Gruppe entlädt, erlebte Stuttgart im Sommer 2020. In der Schwabenmetropole benötigten 280 Polizistinnen und Polizisten bis spät in die Nacht, um die Geschehnisse unter Kontrolle zu bekommen. Was mit einer Personenkontrolle eines Jugendlichen begann, endete in Plünderungen und stundenlangen Straßenschlachten - der Corona-Frust entlud sich. Auch der junge Amudi war dabei: "Ich sehe es gerade so, dass die Polizei meint, sie haben mehr Rechte, weil sie eine Uniform tragen." Nicht die einzige Aussage, die in diesem Beitrag verstört. Doch gerade dieses Ungefilterte macht den Film so wichtig uns sehenswert.

Entscheidend sind die Lebensumstände, nicht die Herkunft

Besonders aus rechtspopulistischen Kreisen wird hierzulande häufig die Frage nach der Herkunft der Täterinnen und Täter gestellt. "In Deutschland gibt es einen ziemlich intensiven Diskurs darüber, ob Ausländer, Migranten, Flüchtlinge ... - das wird dann gerne alles in einen Topf geworfen - auffälliger sind, krimineller, gewalttätiger sind als einheimische Deutsche", erklärt der Soziologe Dirk Baier. Die Forschung würde in vielen Bereichen allerdings keinerlei Unterschiede sehen. Allerdings gibt es eine Ausnahme: einen signifikanten Unterschied im Gewaltbereich. "Wir sehen im Gewaltverhalten eine höhere Belastung von Ausländern beziehungsweise Jugendlichen mit Migrationshintergrund", berichtet Baier.

Eine im Film zitierte Jugendbefragung aus Niedersachsen aus dem Jahr 2019 zeigt auf, dass Raubdelikte und schwere Körperverletzungen unter jungen Migrantinnen und Migranten etwa doppelt so häufig auftreten wie unter deutschen Teenagern. Laut Baier existieren zwei Gründe dafür: Gewalttätige Erziehung kommt häufiger vor und könne für Reproduktion sorgen. "Ein zweiter Punkt ist natürlich der soziale Status." Unter anderem Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt würde unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund Frustration auslösen, sagt er. Entscheidend unter dem Strich sind also eher die Lebensumstände, nicht die Herkunft: "Eine höhere Gewaltbereitschaft haben sicherlich die, die auf irgendeine Art schon sehen, dass sie zu den Verlierern der Gesellschaft gehören", weiß Jugendrichter Andreas Müller, der am Amtsgericht Bernau bei Berlin tätig ist.

Corona-Krise als Brandbeschleuniger

Wie wird sich die Jugendkriminalität in Deutschland in den kommenden Jahren entwickeln? Die im Film genannte Prognose fällt düster aus. Für die Zukunft erwartet Soziologe Dirk Baier ein weiteres Ansteigen der Jugendkriminalität. Insbesondere die Corona-Pandemie wirkt offenbar wie ein Brandbeschleuniger. Die Krise verschlechtert die Zukunftsperspektiven von weniger gut gestellten Teenagern zusätzlich, Jobs werden rarer. Die ZDFinfo-Doku kommt zu dem Schluss, dass drei Komponenten dabei helfen können, Jugendkriminalität zu bekämpfen: Prävention, Bildung und Abschreckung.

Der Film zeigt auch die beiden Hamburger Polizisten Jens Mollenhauer und Helge Westphal im Einsatz. Sie klappern - immer in zivil - die Brennpunkte von Bergedorf bis St. Pauli ab, um mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Teils wird es brenzlig auf der Straße, manchen Jugendlichen ist zuzutrauen, plötzlich ein Messer zu zücken. Gleichzeitig gehört es zur Arbeit der Polizisten, mit jungen Gewaltopfern im Kindesalter zu sprechen und sie auf künftige Konfliktsituationen vorzubereiten. Jugendliche Täter kennen die beiden Veteranen teils seit Jahren. "Die, die ich kennlerne, denen fehlten eigentlich immer so was wie Zeit, Zärtlichkeit und Zuneigung", weiß Jens Mollenhauer um die Bedeutung des familiären Umfelds.