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Coach Attila Albert: "Wer im Leben so richtig scheitern will, nimmt sich am besten vor, alles perfekt zu machen"

Zwischen Ende März und Anfang Mai wird in Japan das Kirschblütenfest Hanami gefeiert. Für Japaner symbolisieren die weißen und rosafarbenen Kirschblüten Perfektion – und ihre Vergänglichkeit. Sie sind besonders, weil sie das Land nur einmal im Jahr und nur für eine kurze Zeit von etwa zehn Tagen in leuchtende Farben tauchen.

Perfektion gibt es nur in kurzen Momenten, betont der Coach und Autor Attila Albert in seinem neuen Buch mit dem provokanten Titel "Perfektionismus ist ein Arschloch" (Verlag Gräfe und Unzer). Seiner Meinung nach verbirgt sich Perfektionismus hinter vielen Problemen, die auf den ersten Blick ganz andere Ursachen haben: Man findet keinen Partner oder schafft es trotz guter Vorsätze nicht, abzunehmen oder sich um die Altersvorsorge zu kümmern. "Perfektionismus ist extrem weit verbreitet", sagt Albert im Gespräch mit Business Insider. In sein Buch seien Erfahrungen aus zehn Jahren Praxis als Coach eingeflossen. Auch er selbst sei früher Perfektionist gewesen, mittlerweile aber davon "geheilt".

Viele Menschen seien heute wahnsinnig gestresst, weil sowohl im Beruf als auch im Privatleben alles perfekt sein soll: der Job, das Gehalt, der Partner, die Kinder, die Wohnung, die Figur, der Lebensstil, die Freizeitaktivitäten. Besondere Ereignisse wie Weihnachten oder Urlaube werden mit übertriebenen Erwartungen aufgeladen. Auch die eigene Hochzeit geriete oftmals zum "Amoklauf des Perfektionismus".

"Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte alles gleichzeitig schaffen"

"Man muss unterscheiden zwischen der Fantasie, die es zum Beispiel in Filmen oder Serien gibt, und der Realität", sagt Albert. "Denn wer an das unerreichbare Ideal glaubt, wird ständig enttäuscht." Eines der größten Probleme sei, dass wir heute auf möglichst allen Gebieten perfekt sein wollen. Und vieles davon ist unvereinbar: Wer beruflich immer 150 Prozent geben will, hat weniger Zeit und Energie für Hobbys, Freunde und Familie. Wer für seine Kinder alles perfekt machen will, vernachlässigt möglicherweise seine eigenen Bedürfnisse. "Es ist ein Irrtum zu glauben, man könnte alles gleichzeitig schaffen. Es kostet mich immer etwas", sagt Albert. "Wir glauben aber, alles wäre möglich, ohne dass man dafür einen Preis zahlt."

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Viele Menschen hielten krampfhaft an der Vorstellung fest, dass man sich einfach nur mehr anstrengen müsse. "Wer im Leben so richtig scheitern will, nimmt sich am besten vor, alles perfekt zu machen", schreibt Albert treffend in seinem Buch. Permanente Unzufriedenheit sei die Folge. Der Coach plädiert deswegen für einen entspannten Pragmatismus und gibt dafür in seinem Buch viele Tipps.

Wer eine große Karriere hinlegen will, muss dafür im Privatleben Abstriche machen. Beziehungen, egal ob zu Freunden oder zur Familie, brauchen Pflege. Und wer über Jahre nach dem perfekten Partner sucht und deswegen allein bleibt, verpasst die Möglichkeiten einer Beziehung. "Es ist erstaunlich, wie viele Singles Mitte 40 es gibt, die noch keine längere Beziehung hatten", so Albert.

Coach und Autor Attila Albert.
Coach und Autor Attila Albert.

2021 sorgte ein Artikel mit der Überschrift "Warum Frauen immer noch nicht alles haben können", erschienen in "The Atlantic", für Gesprächsstoff. Die Autorin Anne-Marie Slaughter hatte ihre Führungsposition im US-Außenministerium unter Hillary Clinton aufgegeben, um mehr Zeit für ihre Kinder zu haben, und kritisierte die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Doch in Wahrheit können auch Männer nicht alles haben. Auch sie zahlen einen Preis dafür, wenn sie wenig Zeit mit ihrer Familie und Freunden verbringen oder die Familiengründung der Karriere opfern. "Das ist aber ganz individuell", sagt Albert. "Es gibt Gründer, Unternehmer und andere, die leben für ihren Beruf und finden es nicht schlimm, dass dadurch das Privatleben zu kurz kommt. Das ist genauso in Ordnung, wie wenn jemand einen 9-to-5-Job bevorzugt."

Hinter Perfektionismus verbirgt sich oft Angst und Unsicherheit

Die Anlage zum Perfektionismus ist nach der Erfahrung von Albert zwischen den Geschlechtern gleich verteilt. Perfektionismus sei häufig eine Folge von Unsicherheit: Man suche Anerkennung durch Leistung. Häufig werde dies schon in der Kindheit oder Jugend gelernt. Auch Angst vor Kritik oder einer Blamage stecke oft hinter Perfektionismus, aber auch Angst um andere. So wollen Eltern bei ihren Kindern gern alles perfekt machen.

Während er in seinem vorherigen Buch die Erwartungshaltung von anderen thematisierte, geht es Albert nun um die hohen Ansprüche an das eigene Leben, die er als "Zeichen unserer Wohlstandsgesellschaft" betrachtet. Früher habe man den Beruf gewählt, der eben gerade möglich war. Heute soll er nicht nur dem Broterwerb dienen, sondern uns glücklich machen. Es sei zwar positiv, dass wir heute eine freie Berufswahl haben, sagt er. Aber die zahlreichen Möglichkeiten bereiten uns auch Probleme.

Studierende und Berufsanfänger streben oft den "perfekten Lebenslauf" an und setzen sich damit selbst unter Druck: Man sollte auf jeden Fall schnell studieren, am besten an einer Elite-Universität, dabei noch vier bis fünf Praktika machen und Auslandserfahrung sammeln. Diesem Idealbild hetzen viele junge Erwachsene hinterher. Albert sieht es als eine "Entwertung von Qualifikation", dass immer mehr junge Menschen studieren, statt eine Ausbildung zu machen. Für viele Fächer wie Geisteswissenschaften gebe es aber keine passenden Berufe.

"Der Beruf wird heute überfrachtet mit Erwartungen"

Der Coach sagt aber auch: "Man sollte sein Leben nicht nach der HR-Abteilung ausrichten." Entscheidend sei, sich zu überlegen, was man wirklich möchte. Das kann auch die Entscheidung für einen Job sein, der zwar nicht die große Leidenschaft ist, der aber gut zu den eigenen Fähigkeiten passt, gut bezahlt wird und genug Freiräume lässt.

"Der Beruf wird heute überfrachtet mit Erwartungen", sagt Albert. Manche Akademiker zögern den Start ins Berufsleben auf der Suche nach dem Traumjob mit einer Promotion, einem zweiten Studium und Weiterbildungen bis weit nach dem 30. Geburtstag heraus und bleiben so oft noch finanziell von ihren Eltern abhängig. Laut Albert verharren sie in der "perfekten Vorbereitung", anstatt genug Berufserfahrung zu sammeln, um dann in der Praxis besser entscheiden zu können, wohin es gehen soll. Eine Symbolfigur dafür könnte die Figur der Rory Gilmore aus der Millennials-Serie "Gilmore Girls" sein. Die Musterschülerin und spätere Absolventin der Elite-Universität Yale vermasselt den Einstieg in den Beruf, weil sie ganz oben anfangen will. Ihre Mutter hatte sich dagegen vom Zimmermädchen zur Hotelbesitzerin hochgearbeitet.

"Es ist Teil des Erwachsenwerdens, zu merken, dass nicht jeder Kindheitstraum in Erfüllung geht", sagt Albert. Niemand muss sich jedoch wie ein Versager fühlen, wenn in einem gewissen Alter bestimmte Dinge noch nicht erreicht sind. In der Realität haben nur wenige mit 30 einen tollen Job, sind verheiratet und finanziell abgesichert, haben Kinder und ein Haus. Und selbst wenn: Es gibt keine Garantie, dass das auch wirklich glücklich macht – schon gar nicht jeden. "Es ist heute möglich, auch später etwas ganz Neues zu machen. Man kann sich Lebensträume erfüllen, solange man lebt", betont der Coach. So habe eine Mutter nach ihrer Pensionierung noch zwei Firmen gegründet. "Das Leben verläuft in Wellen, nicht linear."

"Ein Chef kann nicht immer mehr Aufgaben verlangen, wenn er nicht mehr Mitarbeiter einstellt"

Auch im Arbeitsalltag sollte man sich laut Albert auf die wichtigsten Aufgaben konzentrieren. Das Pareto-Prinzip, nach dem 80 Prozent des Ergebnisses von 20 Prozent des Aufwands erreicht wird, findet er zwar "überbeansprucht". Es könne aber als Anregung dazu dienen, sich zu entscheiden, welche Aufgaben wirklich wichtig sind, und welche nicht.

Dazu könne man ausrechnen, wie viel Arbeitszeit Aufgaben realistisch brauchen – und ob sich dies in der bezahlten Arbeitszeit überhaupt bewältigen lässt. "Da sollte man auch im Team darüber diskutieren: Wovon können wir uns trennen? Ein Chef kann nicht immer mehr Aufgaben verlangen, wenn er nicht mehr Mitarbeiter einstellt", sagt Albert. Wenn der Chef aber objektiv unrealistische Erwartungen an seine Mitarbeiter stellt, die niemand auf Dauer erfüllen kann, kann man nur immer wieder scheitern oder -– wenn der Chef dies nicht einsieht – kündigen.

Liegt das Problem eher an der eigenen Arbeitseinteilung, weil man sich gern in Details verzettelt, kann man sich an den Beta-Versionen in der IT orientieren, schlägt der Coach vor. Wer beispielsweise eine Präsentation anfertigen muss, sollte sich zuerst darauf konzentrieren, etwas einigermaßen Vorzeigbares anzufertigen. In der restlichen Zeit kann man dann noch Details verbessern – muss aber nicht den Chef bitten, die Präsentation zu verschieben. Und dabei sollte man immer im Hinterkopf behalten, dass kleine Fehler den meisten Menschen überhaupt nicht auffallen. Sie können sogar, wie das Stolpern von Jennifer Lawrence bei der Oscar-Verleihung 2013, sehr charmant sein, wenn die oder der Betroffene einfach darüber lacht.

"Fehler sind unvermeidlich, wenn ich mich entwickeln möchte"

Auch immer wieder anfallende Aufgaben, wie die Bearbeitung von E-Mails, lassen sich hinterfragen: Müssen sie sofort beantwortet werden? Müssen wirklich alle beantwortet werden? So könntet ihr beispielsweise ein E-Mail-Zeitfenster einrichten, in dem ihr euren Posteingang bearbeitet, zum Beispiel morgens und nach der Mittagspause.

Anspruch sollte das gesunde Mittelmaß sein, nicht immer der Idealfall, rät Albert. Wer jede Minute seiner Zeit verplant und selbst auf dem Weg ins Büro per App Spanisch lernt, muss sich nicht wundern, wenn er oder sie dauernd gestresst ist. Ein voller Terminkalender und knapp kalkulierte Wegstrecken lassen keinen Raum für unvorhergesehene Zwischenfälle. Und seien wir ehrlich: Das Leben besteht aus unvorhergesehenen Zwischenfällen. Doch gerade diese Zwischenfälle, genauso wie Missgeschicke und Fehler, können uns weiterbringen.

Vielleicht hätten wir bis heute kein Antibiotikum, wenn Alexander Fleming damals nicht seine Petrischale vergessen hätte, sodass diese verschimmelt ist. Und auch der Erfinder des Post-it ist eigentlich gescheitert. Denn eigentlich sollte er einen Superkleber entwickeln. "Fehler sind unvermeidlich, wenn ich mich entwickeln möchte", sagt Albert. "Für Perfektionisten ist es schwierig, das zu akzeptieren."

Daher sollte man keine Fehler vermeiden wollen, sondern bei wichtigen Entscheidungen mögliche Risiken analysieren. Wenn ihr derzeit noch angestellt seid, euch aber gerne selbstständig machen wollt, solltet ihr den Schritt gut durchdenken, empfiehlt Albert: Wie groß ist euer finanzielles Polster? Was ist euer Plan B? So verringert ihr das Risiko für schwerwiegende Folgen deutlich.

Perfektionismus kann hinderlich sein

Auch in Unternehmen ist eine gute Fehlerkultur enorm wichtig. Wer keine Risiken mehr eingeht und sich neuen Entwicklungen verschließt, droht den Anschluss zu verlieren. Die Autoindustrie kämpft gerade mit der Mobilitätswende, Nokia war Marktführer bei Handys, bevor das Smartphone alles veränderte. Die Drogeriemarktkette Schlecker modernisierte sich zu spät und hatte so keine Chance mehr gegen die Konkurrenz von dm, Rossmann und Co.

"In Kulturen wie in Deutschland, der Schweiz oder Japan ist Perfektion positiv besetzt", sagt Albert. Dies habe Vorteile, wie die hohe Qualität von Produkten oder eine hohe Sicherheit. Aber es hat auch Nachteile, wenn – beispielsweise in einer Pandemie – vor allem Schnelligkeit zählt. "Wenn man bei der Verteilung von Impfstoff auf eine perfekte Gerechtigkeit wert legt, führt das zu viel Bürokratie", so der Coach, der in Zürich lebt.

Auch deutsche Unternehmen seien sicherheitsorientiert. "Die wenigsten Firmen rekrutieren nach Potenzial, sondern nach vorhandenen Kompetenzen", kritisiert Albert. Am liebsten werde jemand eingestellt, der genau diesen Job schon zehn Jahre woanders gemacht hat. Spezifische Berufsausbildungen haben einen hohen Stellenwert, Branchenwechsel seien eher ungern gesehen. Quereinsteiger gelten nicht als Chance auf neue Sichtweisen, Ideen und Lösungen.

Die Folge: Unternehmen stellen sehr gleichförmige Kandidaten ein. Und an der Spitze der Dax-Konzerne stehen vorwiegend weiße, westdeutsche, männliche Akademiker, die einen ähnlichen Hintergrund haben und seit mindestens 20 Jahren im selben Unternehmen arbeiten. Es darf bezweifelt werden, ob mit dieser sehr einseitigen Auswahl angemessen auf komplexe Probleme wie den Klimawandel oder die Digitalisierung reagiert werden kann.

Natürlich gibt es aber auch guten Perfektionismus. Von dem Piloten, in dessen Flugzeug ich gerade sitze, und von der Chirurgin, die mich operieren soll, erwarte ich Perfektionismus und nicht, dass sie heute nur 80 Prozent geben wollen. Aber gerade solche Sicherheitsberufe arbeiten oft mit festen Regeln und einem Bewusstsein dafür, dass Menschen Fehler machen. Hohe Sicherheit kann deswegen ebenso eine Motivation für positiven Perfektionismus sein wie die Freude an Qualität und die Liebe zum Detail, die viele Handwerker und Künstler auszeichnen, meint Albert.

Wer sich nur mit Unperfektem beschäftigt, verliert den Blick auf das Wesentliche

Sein wichtigster Rat, um dem Perfektionismus zu entkommen, ist: Mehr Bescheidenheit, gerade was Materielles angeht, und weniger Ich-Bezogenheit. Zudem lohnt es sich, mehr Zeit in Beziehungen zu investieren. Oft lässt es sich auch verbinden: Ein geselliger Abend mit Freunden kann mehr entspannen als allein auf einem Meditationskissen zu sitzen, mit den besten Freunden Fußball spielen oder schwimmen kann mehr Spaß machen als allein ins Fitnessstudio zu gehen.

Wer sich nur mit dem Unperfekten im Leben beschäftigt, verliert den Blick auf das Wesentliche. Dazu müsse man sich nicht zwingend mit den Ärmsten der Welt vergleichen. Auch ein Blick unter die früheren Klassenkameraden oder eine Generation zurück reicht, um zu merken, dass niemand ein perfektes Leben führt.

Perfektionismus kann dazu führen, dass man die Schönheit des Lebens verpasst. In einer Folge der Comedy-Serie "Modern Family" hat sich das Paar Mitchell und Cameron sehr teuren Wein gekauft und will ihn für eine ganz besondere Gelegenheit aufheben. Aber der perfekte Moment dafür kommt nie, und den Wein trinkt dann versehentlich jemand anders.

Perfekte Momente kommen ohnehin oft ungeplant – und sind nur deswegen perfekt, weil man sie als solche erkennt. Sehr wahrscheinlich werdet ihr nie den perfekten Körper haben, die perfekte Beziehung oder den perfekten Job – und schon gar nicht alles auf einmal. Aber ihr könnt trotzdem ein verdammt schönes Leben haben.