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Chemie-Managerin Kadri: „Die Mutter aller Industrien muss sich neu erfinden“

Die Chefin von Solvay wagt bei dem belgischen Chemiekonzern die grüne Revolution. Ihre Branche sieht die gebürtige Marokkanerin am Scheideweg.

Öl ist noch immer der wichtigste Rohstoff in der Chemie. Doch die Firmen forschen intensiv an Alternativen. Foto: dpa
Öl ist noch immer der wichtigste Rohstoff in der Chemie. Doch die Firmen forschen intensiv an Alternativen. Foto: dpa

Die Chemieindustrie gilt als große Männerdomäne. Beim Besetzen der Top-Managementposten mit Frauen tun sich die Firmen schwer. An die Vorstandsspitze schafft es kaum eine Managerin. Ilham Kadri ist eine der wenigen weiblichen CEOs in der Branche. Die Chefin des belgischen Chemiekonzerns Solvay sorgt aber nicht deswegen für Aufsehen.

Während manche Chemie-Manager unbeholfen bis verärgert auf den öffentlichen Druck zu mehr Klimaschutz, Ressourcenschonung und Energiewandel reagieren, geht die 51-Jährige in die Offensive. Sie ist beeindruckt von Greta Thunberg und lobt den „Green Deal“ der EU-Kommission: „Europa könnte für den Rest der Welt ein strahlendes Beispiel sein, wie wir unseren Planeten schützen und Chemie neu denken“, sagt Kadri im Gespräch mit dem Handelsblatt.

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Die gebürtige Marokkanerin versteht sich selbst als Aktivistin in dem Konzern, der noch zu 30 Prozent in Hand der Gründerfamilie ist: Sie will wirtschaftlichen Erfolg mit Umweltschutz und Diversität vereinen. „Die Chemie ist die Mutter aller Industrien“, sagt Kadri. Für sie ist aber klar: „Doch sie muss sich komplett neu erfinden.“

Als Ilham Kadri im März 2019 den Chefposten bei Solvay übernahm, verpflichtete sie die Firma direkt auf die Ziele des Pariser Klimaabkommens. Es war ein Signal an Mitarbeiter, Kunden und Eigentümer, wofür sie angetreten ist.

Solvay ist mit einem Umsatz von zehn Milliarden Euro einer der größten Chemiekonzerne in Europa. Die Firma hat schon einige Umbauphasen hinter sich, doch so richtig kam sie in den letzten Jahren operativ nicht vom Fleck.

Kadris Berufung war eine Kulturevolution

Dass der Verwaltungsrat Kadri vom CEO-Posten des US-Hygienetechnikers Diversey abwarb, kam einer Kulturevolution gleich: die erste Frau an der Spitze des knapp 160 Jahre alten Unternehmens, eine der ersten Frauen in einer Spitzenposition in der Chemiebranche europaweit. Sie solle „eine motivierende Vision“ entwickeln, gab ihr der Verwaltungsrat vor.

Kadris Vision heißt „Solvay One Planet“: Klimaschutz, Ressourcenschonung und besseres Leben sind die Ziele. Danach, so beschreibt sie, werde jeder Geschäftsbereich, jede Produktionsanlage ausgerichtet – und es soll mit wirtschaftlichem Wachstum einhergehen.

Kern ihrer Strategie ist die Kreislaufwirtschaft: Es geht ums Recycling von Material, ums Wiederverwenden und Rückführen von Stoffen in den Produktionskreislauf. Rund 100 Milliarden Tonnen Rohmaterial flossen 2020 ins globale Wirtschaftssystem, schätzt die Umweltorganisation WWF. Nur neun Prozent der Stoffe werden wieder eingespeist. Der WWF hält die Kreislaufwirtschaft für ein geeignetes Konzept, um die Kette aus „Produzieren, Konsumieren und Wegwerfen“ zu durchbrechen.

„Wenn man Abfall recycelt, ist er kein Abfall mehr“, sagt Kadri. Aufgewachsen ist sie in einfachen Verhältnissen in Casablanca, aufgezogen von der Großmutter, das hat sie geprägt. „Ich bin mit der Überzeugung groß geworden, dass wir es uns nicht leisten können, natürliche Ressourcen zu verschwenden.“ Sie studierte Chemie in Frankreich, arbeitete bei großen Chemiekonzernen in Europa und den USA, schaffte es bis ins Topmanagement. Und deswegen weiß sie, dass sie es nicht bei Worten belassen darf.

Kadri trimmt Solvay auf Nachhaltigkeit

Am Standort Rheinberg am nördlichen Niederrhein produziert Solvay die Grundprodukte, für die das Unternehmen seit 1863 steht: Soda und Natriumbicarbonat. Aus ihnen werden Stoffe gewonnen, die für die Herstellung von Glas, Solarmodulen, Waschmitteln und Backpulver oder aber für die Reinigung von Abgasen gebraucht werden. Die Anlage ist energieintensiv und wird mit fossilen Brennstoffen betrieben.

Bald soll der Standort mit einem neuen Kraftwerk betrieben werden, das Altholz als Biomasse einsetzt – der CO2-Ausstoß soll so um ein Viertel sinken. „Kohleausstieg“ nennt Kadri die interne Umstellung auf alternative Energien. „Wir beginnen damit in Deutschland und werden auf Basis der Erfahrungen in Spanien, Frankreich und anderen Teilen der Welt handeln.“

Am Ende, das weiß auch Kadri, müssen wie in jedem Unternehmen die Zahlen stimmen. Die Corona-Pandemie hat Solvay deutlich gebremst. Analysten rechnen 2020 mit einem deutlichen Umsatz- und Gewinnrückgang, vor allem in den Sparten, die den Flugzeug- und Automobilbau beliefern.

Doch hat Corona die grundsätzliche Strategie nicht verändert: Kadri will das Portfolio schärfen, der Kompass sind die großen Trends wie Leichtbaukunststoffe, Gesundheit, Umwelttechnologien und Mobilität. Solvay bündelt dazu sein Wissen auf bereichsübergreifenden Plattformen: etwa für die Batteriechemie oder für die Produktion von Wasserstoff.

Kreislaufprodukte sind im Portfolio schon zu finden: etwa ein Conditioner für die Haarpflege, der lange aus fossilen Rohstoffen hergestellt wurde und nun aus Pflanzen gewonnen wird. Oder ein Kunststoff für Smartphones, der aus Pflanzenöl statt Rohöl entsteht. Bis 2030 soll der Umsatz mit Produkten, die auf erneuerbaren oder recycelten Ressourcen basieren, verdoppelt werden und dann 15 Prozent des gesamten Geschäfts ausmachen.

Analysten versprechen sich viel vom neuen Kurs und der neuen Chefin. JP Morgan hat die Solvay-Aktie auf der Favoritenliste, ebenso die Deutsche Bank. Deren Experten setzen auf den Kulturwandel und erwarten eine deutliche Straffung des Portfolios auf „grüne Stoffe und grüne Mobilität“ bei zugleich steigendem Cashflow.

Wo Kadri die Zukunft der Chemie sieht

Die Chemie sei einer der großen CO2-Emittenten und daher Teil des Problems, wie die Solvay-Chefin unterstreicht. „Gleichzeitig ist die Chemieindustrie jedoch die Mutter aller Industrien und spielt heute dementsprechend eine große Rolle bei nachhaltigen Lösungen“, sagt sie. „Sie muss sich deswegen selbst neu erfinden.“

An der Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft geht aus Kadris Sicht kein Weg vorbei. Deswegen sieht sie den „European Green Deal“ der EU-Kommission mit dem Ziel der Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 auch nicht als Bedrohung für die Industrie: „Es ist eine große Chance für Europa. Das Beste, was uns passieren könnte, wäre ein grüner Aufschwung.“

Europa müsse im Zentrum der Innovation stehen, wenn es darum geht, alte und weniger umweltfreundliche Technologien durch sauberere und nachhaltigere Technologien mit niedrigeren Gesamtbetriebskosten zu ersetzen. Und die Chemie sollte sich als Treiber verstehen: „Ohne sie wird es keinen erfolgreichen Green Deal geben.“

Wie die Solvay-Chefin Führung versteht

Kadri ist als Teilnehmerin bei Podiumsdiskussionen auch zu Themen wie Führung und Diversität gefragt. Sie hat klare Vorstellungen: „Als Führungskraft müssen Sie heute emotionale Intelligenz, Empathie und Bescheidenheit zeigen können“, sagt die Solvay-Chefin. „Sie müssen starke Bindungen zu den Menschen um sich herum aufbauen, besonders in schwierigen Zeiten wie diesen. Das ist aus meiner Sicht wahre Führungsstärke.“

Hochqualifizierte Frauen gibt es ihrer Erfahrung nach auch in Chemieunternehmen genug. Es werde ihnen bloß oft nicht der Aufstieg ermöglicht. Bei Solvay sei es ihr Ziel, dass Frauen nie das Gefühl haben, sich zwischen Arbeit und Familie entscheiden zu müssen, sagt Kadri. Seit Kurzem bietet der Konzern Müttern und Vätern eine erweiterte Elternzeit von 16 Wochen an.

Kadri ist überzeugt: Der Weg nach oben wäre ihr versperrt gewesen, wenn ihre Familie sie nicht immer unterstützt hätte. „Was ich geschafft habe, kann jede Frau schaffen“, sagt sie. „Meine Botschaft an junge, weibliche – und auch männliche – Mitarbeiter ist: Wir müssen Frauen jeden Alters, von der Grundschule bis zu ihrem Jobeinstieg, gezielt unterstützen. Es um Aufgabenteilung zu Hause und mehr. Das braucht es, um es möglich zu machen.“