Berlin schaltet Kohlekraftwerke ein, sucht neue Gasquellen
(Bloomberg) -- Angesichts gekürzter russischer Gaslieferungen verstärkt die Bundesregierung ihre Maßnahmen zur Wiedereinschaltung von Kohlekraftwerken. Für zusätzliches Speichererdgas von anderen Lieferanten sollen Finanzmittel aufgebracht werden - bei den derzeitigen Preisen dürften etwa 15 Milliarden Euro nötig sein.
Das Maßnahmenpaket wurde angekündigt, nachdem Moskau letzte Woche die Lieferungen über die Nord-Stream-Pipeline nach Europa gesenkt hatte, was die Versorgung Deutschlands beeinträchtigte und einen Dominoeffekt in Frankreich, Österreich und der Tschechischen Republik auslöste. Österreich reagierte auf die verringerten Lieferungen mit der Wiedereinschaltung des stillgelegten Kohlekraftwerks in Mellach.
Die Wiederinbetriebnahme von Kraftwerken, die umweltschädliche Kohle verbrennen, zeigt überdeutlich, dass der Kampf gegen den Klimawandel in den Hintergrund tritt, während Europa versucht, sich gegen die durch den Einmarsch von Präsident Wladimir Putin in der Ukraine verursachten Energieengpässe abzusichern.
Es sei “eine Art Armdrücken”, bei dem Putin zunächst den längeren Arm habe, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im ZDF am Sonntagabend. “Aber das heißt nicht, dass wir nicht durch Kraftanstrengung den stärkeren Arm bekommen könnten”, meinte Habeck.
Ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums sagte am Montag in Berlin, dass die Regierungskoalition trotz der jüngsten Kehrtwende an ihrem Versprechen festhalte, bis 2030 einen vollständigen Ausstieg aus der Kohle anzustreben.
Deutschland werde die im Emissionszertifikateprogramm der Europäischen Union festgelegten Grenzwerte einhalten, so der Sprecher. Der energiepolitische Sprecher der Europäischen Kommission, Tim McPhie, sagte am Montag vor Reportern in Brüssel, dass auch Mitgliedsstaaten, die zur kurzfristigen Sicherung der Energieversorgung auf einen verstärkten Einsatz von Kohle zurückgreifen, das verbindliche Klimaziel der EU für dieses Jahrzehnt einhalten müssen.
“Wir wissen, dass sich der Energiemix und die Pläne der Mitgliedsstaaten leicht ändern werden, weil wir uns in einer unerwarteten Situation befinden, in der wir beschlossen haben, unsere Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu beenden”, so McPhie.
Berlin geriet in Alarmstimmung, als der Kreml letzte Woche als offensichtliche Vergeltung für die europäische Unterstützung für Kiew die Lieferungen durch die Nord-Stream-Pipeline um etwa 60% reduziert hatte - just als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Amtskollegen aus Frankreich, Italien und Rumänien in die Ukraine reisten, um die Bewerbung der Ukraine für den Beitritt zur Europäischen Union zu unterstützen.
Die Ampelkoalition will nun auch der Industrie Anreize bieten, den Gasverbrauch zu senken und nicht benötigte Vorräte für die Speicherung zur Verfügung zu stellen. Die Kreditlinien zum Auffüllen der Reserven werden von der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bereitgestellt, teilte das Wirtschaftsministerium am Sonntag mit. Die deutschen Gasspeicher sind aktuell zu knapp 58% ausgelastet. Der Kauf der fast 120 Terawattstunden, die zum Auffüllen benötigt werden, würde bei den derzeitigen Preisen von 123 Euro pro Megawattstunde etwa 15 Milliarden Euro kosten.
Der Schritt Russlands ließ die Gaspreise in der vergangenen Woche um mehr als 50% in die Höhe schnellen und schürte die Sorge, dass die Inflation noch weiter steigen könnte. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich Deutschland auf eine Kürzung vorbereitet und Ressourcen erschlossen, einschließlich der Sicherung von schwimmenden Terminals für den Import von Flüssiggas, um eine mögliche Versorgungslücke zu schließen. Die größte europäische Volkswirtschaft ist für 35% ihres Gasbedarfs immer noch von Russland abhängig.
“Da will ich nicht drumherumreden: Es ist eine angespannte, ernste Lage”, sagte Habeck. “Es war immer klar, dass wir bei Gas in einer großen Abhängigkeit sind.” Habeck zeigte sich aber zuversichtlich, dass die Versorgung für den kommenden Winter sichergestellt werden könne.
Die Regierung wird dem Gasmarktplatz Trading Hub Europe die nötige Liquidität zur Verfügung stellen, um das Ziel einer 80%igen Füllung bis zum 1. Oktober und einer 90%igen Füllung bis zum 1. November zu erreichen. Die Finanzierung der KfW wird durch eine Bürgschaft der Regierung abgesichert. Deutschland hatte Trading Hub Europe bereits im März gebeten, Flüssiggas für die Lagerung zu kaufen.
In Österreich wurde die staatlich kontrollierte Verbund AG am Sonntag angewiesen, ihr stillgelegtes Kohlekraftwerk Mellach für den Betrieb vorzubereiten. Das 200 Kilometer südlich von Wien gelegene Kraftwerk wurde vor zwei Jahren abgeschaltet. Damit war Österreich erst das zweite europäische Land, das die Kohle vollständig aus seinem Stromnetz verbannt hat.
Die österreichische Gasnetzverwaltung teilte am Montag in einem turnusmäßigen Bericht mit, dass die Gasflüsse durch die Nord Stream-Pipeline reduziert wurden, die Importe nach Baumgarten und in die östlichen Regionen jedoch “stabil” seien.
“Trotz des Konflikts in der Ukraine ist aus aktueller Sicht keine Störung der Versorgung österreichischer Endkunden zu beobachten”, heißt es in dem Bericht.
Überschrift des Artikels im Original:
Germany Plans Coal Reversal, Gas Funding to Counter Russian Cut
(Neu: Kommentare von Bundeswirtschaftsministerium und EU-Kommission, Lage in Österreich)
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