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Darum ist Belgien unrühmlicher Spitzenreiter in Europas Corona-Statistik

Nirgends in Europa breitet sich das Coronavirus so schnell aus wie in Belgien. Schuld daran ist auch ein Problem, das sich in Ansätzen auch in Deutschland abzeichnet.

Menschen gehen an den geschlossenen Läden in der Shoppingmeile „Rue Neuve“ vorbei. Um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen, hat das Land weitreichende Maßnahmen verhängt. Foto: dpa
Menschen gehen an den geschlossenen Läden in der Shoppingmeile „Rue Neuve“ vorbei. Um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen, hat das Land weitreichende Maßnahmen verhängt. Foto: dpa

Hinter den Glasscheiben haben die Beamten der Brüsseler Gemeindeverwaltung am Montag alle Hände voll zu tun. Für Belgien ist es Tag eins des teilweisen Lockdowns, doch der Kundenandrang bleibt ungebrochen.

Nirgends in Europa breitet sich das Virus so schnell aus wie hier. Doch keiner der Staatsdiener im Brüsseler Stadtteil Oudergem trägt eine Maske, und niemand scheint sich daran zu stören. Auch die Bürger nehmen die Verschärfung der Corona-Regeln nicht immer ernst. Auf der Holzbank wartet ein Mann, dem die Maske bis in die Mundwinkel hängt.

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Dabei gibt es für maximale Sicherheitsvorkehrungen im Kampf gegen Covid-19 sehr gute Gründe. Denn das 11,5 Millionen Einwohner große Belgien ist mit über 100 Toten pro Tag das gefährlichste EU-Land. Pro 100.000 Einwohner wurden in den vergangenen zwei Wochen 1735 Infektionen gemeldet, zeigen Daten des europäischen Zentrums für Seuchenkontrolle (ECDC). Zum Vergleich: Im fast achtmal größeren Deutschland waren es im gleichen Zeitraum nur 215 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner.

Bereits beim Ausbruch der Pandemie im Frühjahr hatte sich Belgien den Ruf eines europäischen Corona-Hotspots erarbeitet. Die Situation ist auch einer der Gründe, weshalb derzeit etliche EU-Kommissare lieber von ihren Heimatländern aus als an ihrem Dienstsitz Brüssel arbeiten.

Seit Montag gilt in Belgien ein teilweiser Lockdown, mit dem der neue Ministerpräsident Alexander De Croo den Zusammenbruch des Gesundheitssystems verhindern will. Mit Ausnahme der engsten Angehörigen darf nur noch eine Person außerhalb des eigenen Haushalts getroffen werden.

Die derzeitigen Herbstferien wurden bis mindestens Mitte November verlängert. Die Hochschulen werden bis mindestens 1. Dezember nur noch digital unterrichten. Außerdem haben „nicht unentbehrliche“ Geschäfte seit Montag geschlossen. Die Regeln sollen bis zum 13. Dezember gelten.

Doch die Ankündigung der Maßnahmen hatte ungewollte Folgen: Am Wochenende kam es in Belgien zu Hamsterkäufen mit einem Massenansturm auf Innenstädte und große Warenhausketten wie Ikea. „Die Ansteckungen von heute werden in zwei Wochen für eine Zunahme der Corona-Patienten in den Krankenhäusern sorgen und zum Kollaps im bereits überlasteten Pflegesektor führen“, prognostizierte Steven Van Gucht, Chefvirologe vom belgischen Gesundheitsinstitut Sciensano, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk VRT.

Längst befindet sich das belgische Gesundheitssystem an der Belastungsgrenze. „Wir müssen sicherstellen, dass es nicht zusammenbricht“, warnte Premier De Croo, ein früherer Unternehmensberater der Boston Consulting Group. Der deutsche Botschafter in Belgien, Martin Kotthaus, kündigte bereits an, dass Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz schwerkranke Pandemieopfer aufnehmen können.

Die Bundesrepublik habe bereits in der ersten Welle der Pandemie über 230 Coronakranke aus den Niederlanden, Frankreich und Italien in deutschen Krankenhäusern aufgenommen. „Deutschland wird auch in Zukunft solidarisch sein, wenn es beispielsweise in Belgien Engpässe geben wird“, sagte Kotthaus dem Handelsblatt am Montag. Die ersten Patienten aus Belgien werden nach seinen Angaben bereits in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern versorgt.

Die belgischen Kliniken befinden sich im höchsten Alarmzustand. Am Sonntag lagen auf den Intensivstationen 1223 Covid-Patienten, von denen rund 60 Prozent künstlich beatmet werden müssen. Damit ist fast der Höchststand der ersten Corona-Welle mit 1285 Intensivpatienten im Frühjahr erreicht. In ganz Belgien sind nur noch rund 100 Intensivbetten frei.

Doch warum ist Belgien von Corona stärker betroffen als andere Länder in Europa? Eine einfache Erklärung gibt es dafür nicht. Ein wichtiger Grund dürfte aber in der Zickzackpolitik der Politik liegen. Die Vorgängerregierung unter der damaligen Ministerpräsidentin Sophie Wilmes hatte die restriktiven Maßnahmen im Sommer gelockert – und das, obwohl die Infektionszahlen spätestens im September wieder bedenklich stiegen.

Alle relevanten News zur Coronakrise finden Sie in unserem Corona-Liveblog.

Die Lockerungen führten etwa zu einem Massenansturm auf die Sandstrände an der belgischen Küste. Auch Street-Food-Festivals auf einem Brüsseler Boulevard waren wieder erlaubt. Unterdessen infizierte sich Wilmes, die als Außenministerin der derzeitigen Regierung angehört, selbst mit Covid-19. Nach einem zeitweisen Aufenthalt auf der Intensivstation eines Krankenhauses im Stadtteil Oudergem wurde Wilmes vergangene Woche entlassen.

Zu dem Richtungsstreit kommt die mangelnde Koordination zwischen Städten, Gemeinde und Regionen. Der bürokratische Föderalismus in Belgien rächt sich in Coronazeiten besonders grausam. Bei den Coronatests waren die Gesundheitsbehörden komplett überfordert. Gemeinsame Entscheidungen brauchen angesichts der komplizierten Strukturen noch immer sehr viel Zeit.

Über Monate hinweg galt in dem kleinen Land zudem ein Flickenteppich von höchst unterschiedlichen Corona-Regeln. Manche davon ließen sich nur schwer nachvollziehen. So galt in Brüssel etwa im Sommer eine Maskenpflicht für Fahrradfahrer, die dann nach Protesten wieder aufgehoben wurde.

Private Feiern sind komplett verboten

Angesichts des Versagens der Politik bröckelt bei der Bevölkerung die Disziplin. Trotz Warnungen kam es am Wochenende zu einem Gedränge von Einkaufswilligen in etlichen belgischen Fußgängerzonen. Lange Schlangen vor großen Einkaufmärkten entstanden. Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke prognostizierte bereits, dass sich die Käufer gegenseitig anstecken würden.

Die Gefahr der Ansteckung ist in Belgien nicht nur in den Stadtzentren sehr groß. Denn das Königreich zählt mit 375 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den am dichtest besiedelten Ländern Europas. In sozial schwachen Brüsseler Vierteln wie Molenbeek liegt die Zahl der Infizierten angesichts der Enge um ein Vielfaches höher als im Landesdurchschnitt.

Bei vielen der genussfreudigen und familienorientierten Belgier wächst seit Wochen der Frust. Denn bereits seit Mitte Oktober sind Cafés, Brasseries und Restaurants geschlossen, ohne dass das einen sichtbaren Effekt auf die Ausbreitung des Virus gehabt hätte. Feiern mit Familienangehörigen oder Freunden sind komplett verboten.

Anfang Dezember will die Regierung unter dem liberalen Premier De Croo nochmals prüfen, ob es Erleichterungen geben wird. Doch am ersten Tag des erneuten Lockdowns in Belgien sieht es genau nach dem Gegenteil aus.