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Im Bann der Corona-Angst

Das Schlimmste, was der Kriegsgeneration passieren konnte, lag hinter ihr. Heute steht uns das Schlimmste immer bevor. Es muss nicht eintreten. Aber es könnte. Wie werden wir der Angst Herr?

Bei den alten Griechen konnte die Angst noch ganz im Angriffsmodus unterwegs sein: Phobos und Deimos, ihre beiden Protagonisten, zieren im Trojanischen Krieg den Schild des Heerführers Agamemnon, und Kriegsgott Ares heißt seine beiden treuen Begleiter im 15. Gesang der Ilias, „die Pferde anzuschirren“, während er selbst sich in eine „strahlende Rüstung“ zwängt, um den Tod seines Sohnes zu rächen. Gewiss, man kann Phobos und Deimos noch heute begegnen, wortwörtlich sogar, in der Redewendung „Angst und Schrecken“: Das Duo tritt dynamisch, als aktive Drohung und Verursacher passiv erlittenen Entsetzens in Aktion, als machtvoller Angstverbreiter und raumfüllender Furchtfaktor.

Woran liegt das? Nun, der antike Mensch hat im Vergleich zu uns noch einen wacheren, tragischeren Sinn für das, was sich zwischen Subjekt und Objekt abspielt, für das Mediale und Reflexive, das Reziproke und Transitive, also für das unsichtbare Furchtfeld zwischen Agens und Patiens, für das, was sozusagen „in der Luft liegt“: Für die transpersonale Macht der Angst, die von Menschen Besitz ergreift und von der Menschen ergriffen werden – und für die Atmosphäre, das Klima der Angst, das in der Antike noch als Movens eigenen Rechts agiert. Das Altgriechische (Medium) und Lateinische (Deponens) kennt daher Mischformen zwischen Aktiv und Passiv, von deren semantischer Weite wir im Deutschen allenfalls noch eine leise Ahnung haben: Während das altgriechische „phobeo“ zwischen transitiver und nicht-transitiver Bedeutung oszilliert, verstehen wir im Deutschen das reflexive „Ich fürchte mich (vor)“ als subjektives Gefühl, das auf ein Objekt bezogen ist – ohne den dazwischenliegenden „Raum der Angst“ mitzubedenken.

Wohl auch deshalb fällt es uns in diesen Wochen so schwer, mit der Corona-Angst umzugehen: Sie kennt kein Gegenüber, ist unbestimmt, ungreifbar, liegt in der Luft wie einst Miasma und Pesthauch – und sprengt damit das limitierte Angstverständnis von uns Einwohnern westlicher Komfortzonen. Die Corona-Angst äußert sich nicht als menschliche Elementaremotion angesichts einer akuten bedrohlichen Lage: Das Virus stellt keine Kriegssituation dar, keine Naturkatastrophe, auch keinen „schwarzen Mann“, der uns nachts auflauert. Die Corona-Angst lässt sich weder fassen als konkrete, objektbezogene Furcht (das Virus entzieht sich ja gerade seiner Adressierbarkeit) noch als diffuses, subjektiv empfundenes Angstgefühl (das Virus ist ein klar identifizierbarer Auslöser der Angst).

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Und die Corona-Angst fällt schon gar nicht nicht wie Phobos und Deimos über uns her, um uns in Panik zu versetzen, pflügt nicht wie ein apokalyptischer Reiter durch unsere Welt, verwüstet nicht unsere Psyche – versteinert uns nicht wie der Anblick der Medusa. Kurzum: Die Corona-Angst lähmt uns (noch) nicht. Wir fühlen uns (noch) nicht von ihr beherrscht, sie schnürt uns (noch) nicht die Brust zu, sie raubt uns (noch) nicht den Atem. Was wir statt dessen wahrnehmen, ist ein Gefühl der Beklemmung, ein Klima der Angst – die langsame Öffnung eines Angstraumes. Vielleicht lässt sich das Grundgefühl des Kontinents in diesen Tagen am besten in Abwandlung eines bekannten Karl-Marx-Satzes verstehen: Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst einer seltsam aktivierten Ängstlichkeit.

Ängstlichkeit – verstanden als Eigenschaft einer Person und passive Konstitution eines Kollektivs, war gemeint, wann immer in den vergangenen Jahrzehnten von „German Angst“ die Rede war. Vor allem leichtliberale Wirtschaftsfreunde malten die Phrase gern als Phantom einer nationalen Pathologie an die politische Pinnwand, um sie mit schwarz-gelben Pfeilen zu durchlöchern, auf denen zuletzt etwa „Digital first, Bedenken second“ stand. Man stellte sich den Deutschen gern als siechen Patienten ohne Innovationsdurst und Zukunftshunger vor, das Land als Genossenschaft weltfremder Technik- und Fortschrittsfeinde.

Dass sich die Politik in Europa und Deutschland dagegen, zumal nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkriegs, als (erfolgreiche) „Politik der Angst“ beschreiben lässt, die vor allem daran interessiert war, das Schlimm(ste) zu verhindern; dass dieser Politik der Angst mithin eine „produktive Funktion“ eingeschrieben ist, weil sie als „Angst vor dem Verlust der Demokratie“ wirksam wurde, hat zuletzt der Historiker Frank Biess sehr schön beschrieben: „Die Westdeutschen konnten sich nach 1945 nie völlig sicher sein, dass sich ihr Staat in eine friedliche, wohlhabende und relativ pluralistische demokratische Gesellschaft entwickeln würde.“ Dass es ihnen dennoch gelang, hat nichts mit dem abnormen Sicherheitsbedürfnis einer kollektiv gedachten Volksseele zu tun – und sehr viel mit einem politischen Handeln, dass seine Risiken immer mitbedacht, das Prinzip der Vor-Sorge stets beim Wort genommen hat: (Nur) im Raum elementarer Angstfreiheit gedeihen Wirtschaft und Wohlstand.

Doch je weiter sich der Raum der Angstfreiheit öffnete, desto mehr haben wir die Angst als Konkretion dabei aus dem Blick verloren: Wir wissen nicht mehr, worum es sich bei ihr handelt – und schon gar nicht mehr, mit ihr umzugehen. Unsere Großeltern wuchsen noch mit elementaren Angsterfahrungen auf: Das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, lag bereits hinter ihnen. Das ist seither anders. 75 Jahren Frieden in Europa, ein Leben voller Wohlstand, Chancen und Optionen – das heißt für jeden, der in diese historisch einmalige Konstellation hinein geboren wurde und wird: Das Schlimmste steht ihm noch bevor. Es muss nicht eintreten. Aber es könnte.

Entsprechend gruselten sich zunächst die Babyboomer vor Atomtod und Baumsterben; ihre Ängstlichkeit enthielt, so wie im Falle der heutigen FFF-Generation, Spuren von Stolz: Sie durften ihre Angst immer auch als Qualität und Auszeichnung, als Distinktionsmerkmal und Selbstbereicherung empfinden: als Angst, die von ihrer besonderen Sensibilität, ihrer romantisch-rebellischen Empfindsamkeit kündete. Vielleicht kann man sich diese Menschen mit dem amerikanischen Soziologen David Riesman am besten wie innengeleitete Kompassmenschen vorstellen, die sich inmitten eines wachsenden Raums der Angstfreiheit angstvoll selbst verwirklichen wollten.

Demgegenüber hat man sich die Generationen X, Y und Z als sensorisch sensible Wohlstandsbürger vorzustellen, deren Verlustängste zunehmend stark von Optionsängsten überlagert wurden – als Radarmenschen, ständig in Sorge, das Beste zu verpassen. Radarmenschen spiegeln, mit den Soziologen Heinz Bude und Andreas Reckwitz gesprochen, ihr Leben im Leben der anderen: Sie brauchen viel Rückkopplung und Feedback, viel Lob und Anerkennung, sind stark geprägt von den Erfolgen und Ansprüchen ihrer Mitmenschen und ständig um vergleichende, allgemein akzeptierte Singularität bemüht: Seht her, so (toll) bin (nur) ich!

Problematisch ist das deshalb, weil Radarmenschen nur ein einziges (nämlich ihr eigenes) Leben im Indikativ führen können und weil es das tolle Leben aller anderen nur im Konjunktiv gibt: als das Leben, das man stattdessen führen könnte, aber leider gerade verpasst. Selbst der erfolgreichste Manager, der selbstbestimmteste Gründer und glücklichste Erbe erfährt sich permanent als Mängelwesen: als der Bergsteiger, die Tauchlehrerin, der Weltreisende, der Goethekenner, Familienmensch, Gourmetkoch und Kunstliebhaber, der er gerade nicht ist. Ganz gleich, wie viele Weltumrundungen, Ozeanüberquerungen, Gipfelerstürmungen, Partnereroberungen, Konsumhöhepunkte der Radarmensch schon erlebt hat – er sitzt immer, eilend von einer Sensation zur nächsten, ängstlich auf einem Berg des Noch-Nicht-Getanen oder, schlimmer noch: des unwiderruflich Versäumten. Wie soll man da glücklich werden?

Freilich: Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist die Angst jenseits der Ängstlichkeit zurück in Deutschland – als Paradox einer ebenso bestimmten wie diffusen Angst, die sich zu gleichen Teilen dem Versagen komplexer Systeme und Wachstumslogiken verdankt wie den „alternativlosen“ Antworten der Politik, um dieselben dysfunktionalen Systeme und Wachstumslogiken (vorläufig) zu retten. Jeder weiß: Kein Kredit zaubert heute mehr ein Stück Zukunft ins Heute; jede weitere „Finanzspritze“ der Notenbanken stottert eine Gegenwart ab, die ihre künftigen Potenziale schon verbraucht hat. Und jeder weiß auch: Kein konventionelles Kraftwerk öffnet uns heute noch neue Wohlstandshorizonte, im Gegenteil: Mit jeder Tonne CO2, die wir in die Atmosphäre pusten, wird es ungemütlicher auf diesem Planeten.

Eben deshalb käme es heute auf die Erschließung eines Angstraums an, in dem das Prinzip der Vor-Sorge konsequenter als je mitbedacht wird. Wenn die Coronakrise zu irgendetwas gut sein soll, dann wäre es wohl das: Sie stellt uns die Versäumnisse mangelnder Vor-Sorge exemplarisch, konkret und mit tödlicher Konsequenz vor Augen – und lässt hoffen, dass der homo postcorona wieder so entschlossen Räume der Angst erschließt wie einst Phobos und Deimos – diesmal allerdings, um die Angst als kapitalinduzierte Produktivkraft entbinden – und um uns im Namen der „Cura“ unter ihren Bann zu stellen: verurteilt zu aggressiver Lösungslust und Innovationsfreude.