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Autorin Teresa Bücker: "Menschen treffen viele Entscheidungen nicht anhand des Geldes. Aber bei der Kinderbetreuung passiert es auf einmal"

 - Copyright: Paula Winkler
- Copyright: Paula Winkler

Teresa Bücker gilt als Feministin ihrer Generation. Von 2014 bis 1019 arbeitete sie beim Onlinemagazin "Edition F", zuletzt als Chefredakteurin – das "Medium Magazin" kürte sie zweimal zur Journalistin des Jahres. Jetzt hat die 38-jährige Autorin das Buch "Alle_Zeit – eine Frage von Macht und Gerechtigkeit" veröffentlicht. Der Zugriff auf Zeit, argumentiert Bücker darin, sei eine Frage von Macht und Freiheit – und in der Gesellschaft ungerecht verteilt. Wir haben mit ihr über die große Frage gesprochen, wie Zeit unser Leben beeinflusst – und . 

Business Insider: Wie sähe die ideale Arbeitszeit aus?

Teresa Bücker: Pauschal ist das schwer zu beantworten. Wir könnten sagen: bei etwa 30 Stunden Erwerbsarbeitszeit. Schauen wir in die Befragungen, dann sehen wir, dass Frauen sich eher eine geringere Arbeitszeit wünschen als Männer.

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BI: Aber in den Debatten hören wir oft, Frauen sollen häufiger in Vollzeit arbeiten – und würden das, wenn sie denn könnten.

Bücker: Das stimmt nicht. Auch unter idealen Bedingungen – Kinderbetreuung, gerecht verteilte Sorgearbeit – geben Frauen im Schnitt Wunscharbeitszeiten von um die 30 Stunden an. Auch Männer liegen bei diesen Befragungen deutlich unter 40 Stunden. Das bedeutet: Unsere Arbeitskultur passt überhaupt nicht zu den Wünschen in der Bevölkerung. Damit müssen sich Wirtschaft und Politik befassen. Aber stattdessen wird in der öffentlichen Debatte ein schiefes Bild erzeugt: dass Frauen am liebsten alle in Vollzeit arbeiten würden und derzeit davon abgehalten werden.

BI: Warum wollen Frauen ihre Zeit anders einteilen?

Bücker: Frauen blicken – durchschnittlich – etwas anders aufs Leben. Sie wollen nicht all ihre Zeit mit Erwerbsarbeit verbringen. Das liegt auch daran, dass sie wissen, wie viel Zeit die Sorgearbeit braucht. Gleichzeitig knüpfen sie ihre Identität weniger stark an ihren Beruf. Frauen können ihr Leben also ein Stück weit freier entwerfen, als viele Männer es können. Sie brauchen den Job nicht, um sich als ganzer Mensch zu fühlen. Natürlich trifft das so nicht auf alle zu – das sind Tendenzen. Aber: Vollzeit-Arbeit ist insbesondere für Mütter nicht die Wunschvorstellung. Übrigens haben das Soziologinnen schon in den 70er- und 80er-Jahren erhoben.

BI: Das ist lange her. Und getan hat sich wenig?

Bücker: Die in Vollzeit arbeitende Frau ist das Ideal der Gleichstellung und Familienpolitik. Die Vollzeit-Quoten von Frauen sollen weiter steigen. Das kann aber nicht klappen.

BI: Warum nicht?

Bücker: Die Aufgaben, die neben der Erwerbsarbeit wichtig sind, umfassen viel Zeit. Und diese Zeit kann absehbar nicht professionalisiert aufgefangen werden. 65 Prozent der Kleinkinder unter drei gehen nicht in die Kita und werden überwiegend von Müttern und Großeltern betreut. Ähnlich sieht es bei der Pflege der Angehörigen aus. Viele, die keine Erfahrung damit haben, denken, dass die Mehrheit der pflegebedürftigen alten Menschen in Seniorenheimen lebt. Aber die überwiegende Mehrheit wird häuslich gepflegt – von Angehörigen. Auch diese Care-Arbeit wird häufiger von Frauen übernommen. Privat und unbezahlt.

BI: Sie haben angedeutet, das könne theoretisch professionell aufgefangen werden.

Bücker: Aber es dauert sehr lange, diese Strukturen zu schaffen. Dafür müsste das professionelle Care-System massiv ausgebaut werden. Aber absehbar haben wir die Fachkräfte nicht, nicht in der Kinderbetreuung, den Ganztagsschulen und auch nicht in der Pflege. Wenn es gut läuft, dann könnten wir in 20 bis 25 Jahren mit dem Care-System so weit sein, dass alle Eltern, die wollen, in Vollzeit arbeiten können. Und das wird in der politischen Debatte und in Wirtschaftsmedien nicht ausreichend diskutiert: Die Vollzeit-Erwerbsquote von Frauen in den nächsten fünf Jahren auf das Niveau der Männer zu bringen, ist unrealistisch, solange im Care-Bereich nicht ein Wunder passiert.

BI: Unter diesen derzeitigen Bedingungen sind Frauen finanziell schlechter abgesichert.

Bücker: Wir können aber nicht sagen: Die Frauen erwerbsarbeiten mehr und sonst ändert sich nichts. Viele Frauen sind aktuell vollbeschäftigt – nur unbezahlt zu Hause. Wir müssen Erwerbs- und Sorgearbeit stärker umverteilen. Wenn Männer etwas weniger arbeiten würden und sich bei Kindererziehung und Angehörigenpflege mehr einbringen, könnten viele Frauen etwas mehr arbeiten und dann auch mehr Geld verdienen.

BI: Was wünschen Sie sich von Politik und Wirtschaft?

Bücker: Es braucht einen differenzierteren Blick auf unsere Gesellschaft und die Lebensrealitäten der Menschen. Dass Frauen weniger Zeit mit Erwerbsarbeit verbringen, liegt nicht am mangelnden beruflichen Interesse.

BI: In Familien ist die Arbeitszeit der Frau auch häufiger die "Verfügungsmasse". Das Kind ist krank – die Frau bleibt zu Hause.

Bücker: Das wird häufig mit Gehaltsunterschieden erklärt. Paare haben dann eine sehr simple Sicht auf die Wertigkeit ihrer Zeit. Wer mehr verdient, geht der höherwertigen Erwerbsarbeit nach. Wer weniger verdient, betreut das Kind.

BI: Aber dadurch verstärkt sich der Unterschied weiter.

Bücker: Mich macht es auch stutzig. Paare wollen gleichberechtigt leben. Und Menschen treffen viele Entscheidungen nicht anhand des Geldes. Aber bei der Kinderbetreuung passiert es auf einmal. Dabei ginge es gleichberechtigt: Beide arbeiten 30 Stunden und teilen die Kinderbetreuung. Natürlich kann das Gesamteinkommen dann sinken. Aber gerade in der Mittelschicht wäre ein solches Modell lebbar. Und trotzdem schaut man auf jeden Euro.

BI: Gibts eine Erklärung?

Bücker: Nicht wirklich. Die ökonomischen Unterschiede bei diesen Paaren sind nicht so riesig, dass es eine absolut notwendige Entscheidung wäre, dass die Frau betreut. Finanziell wäre es anders organisierbar. Es müssen also noch andere Faktoren hinzukommen.

BI: Ja?

Bücker: Die Zeit von Frauen wird auch kulturell abgewertet. Das sitzt sehr tief.

BI: Was ist da los?

Bücker: Männer schauen mit einem anderen Selbstverständnis auf ihre eigene Zeit. Sie gehen stärker davon aus, dass ihre Zeit ihnen gehört und sie sie nicht teilen müssen. Frauen sind eher so sozialisiert, ihre Zeit nicht so stark als ihre eigene zu begreifen. Sie stellen sie eher anderen zur Verfügung. Und darüber muss man sich in einer Partnerschaft erst einmal bewusst werden. Frauen geben eher nach, während der Mann vielleicht die Idee noch nicht hatte, seine Zeit der Familie zur Verfügung zu stellen. Wir tragen diese Denkmuster noch mit uns herum. Debatten um Arbeitsteilung in Partnerschaften werden nicht immer auf Augenhöhe geführt. Und nicht ehrlich.

BI: Nun könnten wir einwenden, dass Menschen ihre Zeit freiwillig einteilen. Und über diese Freiheit sprechen wir sehr wenig.

Bücker: Teilzeit ist zum Beispiel ein Modell, das oft – nicht immer – freiwillig gewählt ist. Sie ist aber sehr negativ besetzt und wird häufig als Ausdruck von Unfreiheit diskutiert. Problematisch an der Teilzeit ist, dass Frauen dabei finanziell abhängig von Männern werden können. Aber wie ich Zeit nutze, ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung. Aus dieser Perspektive könnte man auch bei Männern eine Form von Unfreiheit sehen, weil sie den Großteil ihrer Zeit mit Erwerbsarbeit verbringen und viel seltener davon abweichen als Frauen. Ihre Lebensmodelle sind weniger vielfältig. In Studien sehen wir auch, dass Männer in Teilzeit eine geringere Lebenszufriedenheit berichten, weil ihr Selbstbild stärker an eine Erwerbstätigkeit in Vollzeit geknüpft ist.

BI: Wie erreichen wir mehr Freiheit?

Bücker: Das hängt am Geld. Von Erwerbsarbeit in Teilzeit können viele nicht leben. Wir brauchen diese Forderung in den politischen Debatten: Löhne müssen ein Niveau erreichen, mit dem Menschen mit Kindern auch von einer 30-Stunden-Stelle leben können. Das wäre vor allem für die Alleinerziehenden wichtig – und etwa 20 Prozent der Kinder in Deutschland werden bei Alleinerziehenden groß. Das ist also kein Nischenthema, sondern ein ganz normales Familienmodell. Auch diese Eltern müssen wir in die Lage versetzen, ihre Familien zu ernähren. Übrigens betrifft das auch den Mindestlohn: Seine Höhe geht von einer 40-Stunden-Woche aus. Darin liegt eine sexistische Diskriminierung, weil er sich nicht an Sorgeverantwortlichen orientiert.

BI: Nicht jeder kann 40 Stunden arbeiten.

Bücker: Diese Möglichkeit ist ungleich verteilt. In einem Modell, in dem ein Mensch nur etwas wert ist, wenn er 40 Stunden arbeitet, werden alle gesellschaftlich an den Rand geschoben, die das nicht können. Das betrifft zum Beispiel auch Menschen mit Behinderungen oder chronisch Erkrankte. Wir müssen also auch die Kopplung von Identität, Erwerbsarbeit und Selbstwert ein Stück weit auflösen. Unser Menschenbild braucht Platz für Einschränkungen, Verletzlichkeit und Krankheit. Wir sehen übrigens in der jüngeren Generation, dass sich die Vorstellung davon, wie Menschen leben wollen, wandelt.

BI: Weniger Lohnarbeitszeit, mehr vom Leben. Aber schauen wir in die Debatten, dann haben viele Menschen Angst davor, dass diese Generation nicht genug leisten wird. Fährt dieses Land vor die Wand?

Bücker: Nein. Kürzere Arbeitszeiten wären eine gute Strategie, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. In Branchen mit hoher Belastung sehen wir bereits, dass weniger Stunden gefordert werden. Pflegekräfte sind ein Beispiel: Wer verantwortlich mit sich umgeht, der kann das für 25 bis 30 Stunden in der Woche leisten. Gälten 30 Stunden hier als Vollzeit, würden viele Pflegekräfte in den Beruf zurückkehren. Auch in gut bezahlten technischen Berufen sehen wir schon an den Stellenanzeigen, dass Unternehmen mit der Vier-Tage-Woche um Fachkräfte werben.

BI: Woher dann die Angst?

Bücker: Es ist nicht nur die Sorge, dass die Wirtschaft nicht mehr funktioniert. Die Jüngeren treffen einen wunden Punkt: Diese Generation traut sich, anders zu leben. Sie will ihre Werte leben. Auch wir leben im Widerspruch zu unseren Werten. Die meisten Menschen sagen, Gesundheit sei ihnen das Wichtigste, außerdem Freundinnen und Freunde. Das rangiert noch vor dem Erfolg im Büro.

BI: Aber wir gehen krank ins Büro und sagen – aus Erschöpfung – unsere Verabredungen ab.

Bücker: Es ist bizarr. Wir leben in einem dauerhaften Wertekonflikt. Die jüngeren Menschen lösen das auf. Sie wollen nach ihren Werten leben, authentischer – und darin liegt auch eine Provokation. Einige ältere Menschen reagieren darauf mit Skepsis, weil sie ihr eigenes Lebensmodell verteidigen müssen. Wir sehen aber viele Krankschreibungen, gerade im mittleren Lebensalter. Menschen fehlen in ihren Jobs, weil sie gesundheitlich belastet sind – auch durch die Arbeit. Eine alternde Gesellschaft mit Fachkräftemangel muss sich noch stärker die Frage nach guten Arbeitsbedingungen stellen. Das geht über die Arbeitszeit hinaus. Aber Überstunden sind definitiv keine Antwort auf den Fachkräftemangel.

BI: Sondern?

Bücker: Wir sollten nicht die mehr belasten, die schon viel arbeiten. Es gibt viele Menschen, die mehr arbeiten wollen. Hier können wir mit Qualifizierung oder besseren Arbeitsbedingungen mehr Menschen in Arbeit bringen.

BI: Es gibt viele Menschen, die gar nicht selbst kontrollieren können, wie viel sie selbst arbeiten.

Bücker: Und diese Menschen finden in der Debatte um den Fachkräftemangel nicht statt. Es wird so getan, als würde ganz Deutschland schon in Vollzeit arbeiten und alle müssten mehr machen. Aber die, die nur Neben- oder Hilfsjobs haben, die kommen nicht vor. Gleichzeitig brauchen wir mehr Zuwanderung. Wir müssen die Geflüchteten, die hier leben und arbeiten wollen, schneller in den Arbeitsmarkt bekommen.

BI: Wo können Unternehmen jetzt ansetzen?

Bücker: Sie sollten ihre Belegschaft sehr gut kennenlernen: Was sind die Bedürfnisse der Menschen? Viele Führungskräfte üben Kontrolle über Anwesenheit aus – aber Pendelzeiten belasten die Menschen. Auch Vertrauensarbeitszeit oder flexible Arbeit helfen. Unternehmen sind aber auch gefordert, moderne Elternrollen vorzuleben. Es hilft, Männer zu ermutigen, Elternzeit zu nehmen oder Arbeitszeit zu reduzieren. Die Fachkraft, die Unternehmen suchen, arbeiten oft sogar schon im Betrieb, aber vielleicht nur in einer 20-Stunden-Stelle.  Um die Stundenzahl im Job zu erhöhen, brauchen Frauen Partner, die Zuhause mehr übernehmen. Wenn also alle Männer ein bisschen weniger arbeiten, haben die weiblichen Fachkräfte mehr Zeit für ihre Berufe. Übrigens tun Unternehmen echt viel.

BI: Das klingt in der öffentlichen Debatte aber anders.

Bücker: Unternehmen probieren viel aus! Familienfreundlichkeit zieht mehr Bewerberinnen und Bewerber an. Immer mehr Betriebe experimentieren mit der Vier-Tage-Woche und schauen, welche Effekte dies auf die Produktivität hat. Wir sollten viel mehr auf die Unternehmen schauen, die das bereits vorleben. Und diese innovativen Impulse brauchen wir in den politischen Debatten und in der Berichterstattung.