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Automatisch Organspender? Bundestag steht vor einer folgenschweren Entscheidung

Der Gesundheitsminister will die „doppelte Widerspruchslöung“, im Bundestag erwartet ihn Widerstand. Foto: dpa

Deutschland braucht mehr Organspender, mögliche Lösung wäre die „doppelte Widerspruchslösung“. Doch was heißt das überhaupt? Die wichtigsten Fakten.

Rund anderthalb Jahre sind vergangen, seit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Reform der Organspende auf die Agenda setzte. Spahn sprach sich im Spätsommer 2018 für eine weitreichende Änderung aus: Menschen sollten nach dem Hirntod automatisch zu Organspendern werden, wenn sie zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen haben und ihre Angehörigen keine andere Willensbekundung kennen.

Nach einer breiten Debatte in Politik und Gesellschaft steht nun die Entscheidung an. Im Bundestag herrscht zumindest beim Ziel große Übereinstimmung: Um die Zahl der Organspenden zu steigern, muss sich etwas ändern.

Das Parlament stimmt am Donnerstag über zwei fraktionsübergreifend erarbeitete Gesetzentwürfe ab. Die Abgeordneten haben die Wahl zwischen der von Spahn favorisierten „doppelten Widerspruchslösung“ und einer an das bisher geltende Zustimmungsprinzip angelehnten Variante, bei der Bürger regelmäßig auf die Organspende angesprochen werden sollen und sich in ein Online-Register eintragen können.

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Spahn warb vorher noch einmal für den Gesetzentwurf, den er als Teil einer fraktionsübergreifenden Gruppe von Bundestagsabgeordneten eingebracht hat. „Wir haben die Chance, mit der Neuregelung der Organspende Leben zu retten“, erklärte er. „Knapp 1 000 Menschen sterben jährlich auf den Wartelisten.“

Kritiker von Spahns Vorschlag sehen einen schwerwiegenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Die Freiwilligkeit bei der Organspende müsse gewahrt bleiben. „Wir wollen, dass Spender Spender sein müssen“, sagte die SPD-Abgeordnete Hilde Mattheis. Die Anhänger der Widerspruchslösung setzten auf die Trägheit der Menschen mit dem Ziel, dass viele nicht widersprechen.
Unterstützung bekommt die Gruppe um Spahn aus der Ärzteschaft. Ärztepräsident Klaus Reinhardt sagte, die Widerspruchslösung wäre ein starkes Signal der gesellschaftlichen Solidarität. Diese Lösung nehme Menschen in die Pflicht, sich für oder gegen eine Spende zu entscheiden.

Der Ausgang der Abstimmung ist entsprechend schwer vorherzusagen, auch wenn die Gegner der Widerspruchslösung in den Bundestagsdebatten zu dem Thema stärker vertreten schienen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu der wegweisenden Entscheidung:

Wie ist die Organspende bisher in Deutschland geregelt?

Die medizinische Voraussetzung für eine Organspende ist, dass bei einem Patienten der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen eingetreten ist. Den Hirntod müssen zwei erfahrene Ärzte unabhängig voneinander feststellen. Daran wird sich nichts ändern, egal wie der Bundestag entscheidet.

Bei der Reform geht es darum, wer nach dem Hirntod zum Organspender wird. Nach derzeitiger Rechtslage müssen potenzielle Spender ihre Bereitschaft zu Lebzeiten schriftlich erklärt haben, etwa mit einem Organspendeausweis. Außerdem können die Angehörigen gefragt werden, ob eine Organspende in Frage kommt.

Warum ist eine Reform überhaupt nötig?

In kaum einem anderen europäischen Land spenden so wenige Menschen nach ihrem Tod ein Herz, eine Leber oder eine Niere wie in Deutschland. Während fast 10.000 Schwerkranke auf den Wartelisten für ein Spenderorgan stehen, gab es 2019 nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) bundesweit nur 932 Organspender. Das ist ein leichter Rückgang im Vergleich zum Vorjahr (955), aber immerhin mehr als 2017, als mit 797 Spendern der niedrigste Stand seit zwei Jahrzehnten verzeichnet worden war.

Dabei haben viele Deutsche eine positive Haltung zur Organspende. Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) stehen 84 Prozent der Bundesbürger stehen Organspenden positiv gegenüber. Am höchsten ist die Zustimmung demnach bei jungen Leuten zwischen 18 und 29 Jahren mit 93 Prozent.

Allerdings haben nur 37 Prozent der Befragten in einem Organspendeausweis ihre Spenderbereitschaft bekundet. Viele potenzielle Spender überwinden also nicht die Hürde, sich aktiv um den Ausweis zu bemühen. Außerdem liegt das Dokument oft nicht vor, wenn sich die Frage der Organentnahme im Krankenhaus stellt.

Was würde sich durch eine Widerspruchslösung ändern?

Die von einer Abgeordnetengruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Fachpolitiker Karl Lauterbach vorgeschlagene Lösung dreht das bislang geltende Prinzip um: Wer nicht zu Lebzeiten seinen Widerspruch kundtut, gilt nach dem Tod als Organspender. Festgehalten werden soll der Wille in einem bundesweiten Register. Vor einer Transplantation müssten Ärzte prüfen, ob dort ein Widerspruch vorliegt.

Der Eintrag in dem Register soll jederzeit bearbeitet oder gelöscht werden können, in der Arztpraxis oder online. Angehörige können ein Veto einlegen, wenn sie glaubhaft versichern, dass der Verstorbene kein Spender sein wollte. Die Unterstützer dieses Gesetzentwurfs sprechen daher auch von einer „doppelten Widerspruchslösung“.

Ein eigenes Entscheidungsrecht soll den Angehörigen künftig aber nicht mehr zustehen - es sei denn, der mögliche Spender ist minderjährig und hat keine Erklärung abgegeben. Bei Menschen, die etwa wegen einer geistigen Behinderung die Tragweite einer solchen Entscheidung nicht erkennen können, sollen Organspenden grundsätzlich tabu sein.

Ab Oktober 2022 soll die Neuregelung greifen, die Bevölkerung soll über eine groß angelegte Informationskampagne von der Rechtsänderung bei der Organspende erfahren. Künftig soll jeder Bürger ab 16 Jahren dreimal persönlich angeschrieben werden, um von der Widerspruchsmöglichkeit Kenntnis zu erlangen.

Spahn machte immer wieder deutlich, es werde unter seinem Modell keine Pflicht zur Organspende geben - aber eine Verpflichtung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dem „Tagesspiegel“ sagte er kürzlich, dass eine Widerspruchsregelung einen kulturellen Wandel bewirken werde: „Normal wäre dann die Bereitschaft zur Spende. Aktiv müssten nicht mehr diejenigen werden, die das wollen, sondern die, die für sich entscheiden, dass sie nicht Organspender sein möchten.“

Was planen die Gegner der Widerspruchslösung?

Eine Parlamentariergruppe um die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock und die Linken-Chefin Katja Kipping hat einen fraktionsübergreifenden Alternativentwurf zu dem Vorhaben von Spahn und Lauterbach vorgelegt, bei dem das Prinzip der Freiwilligkeit gewahrt werden soll. Ihre Kritik lautet, dass die Widerspruchslösung nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen sowie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sei.

In dem Gesetzentwurf ist das Ziel formuliert, „eine stets widerrufbare Entscheidung klar zu registrieren, verbindliche Information und bessere Aufklärung zu gewährleisten und die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Thematik zu fördern“. Auf diesem Weg soll die „bestehende Differenz“ zwischen der positiven Einstellung in der Bevölkerung zur Organspende und dem dokumentierten Spenderwillen verringert werden.

Vorgesehen ist, die Bürger mindestens alle zehn Jahre direkt anzusprechen. Wer ab 16 einen Personalausweis beantragt, ihn verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll auf dem Amt Informationsmaterial bekommen. Beim Abholen kann man sich dann auch schon direkt vor Ort in ein neues Online-Register eintragen – mit Ja oder Nein.

Auch den Hausärzten soll eine wichtige Rolle bei der Aufklärung zukommen. Laut Gesetzentwurf sollen sie ihre Patienten „bei Bedarf aktiv alle zwei Jahre über die Organ- und Gewebespende beraten und sie zur Eintragung in das Online-Register ermutigen“. Die Betragung soll aber ergebnisoffen und mit dem Hinweis erfolgen, dass es keine Pflicht zu einer solchen Erklärung gibt.

Die AfD hat einen eigenen Antrag eingebracht, in dem eine Widerspruchslösung abgelehnt wird. Stattdessen müsse das Vertrauen in das Organspendesystem gestärkt werden, heißt es da. Die Standards für die Organentnahme müssten einheitlicher und transparenter gestaltet werden, die Aufsicht sollte auf „eine nicht mit den Beteiligten im Organspendeverfahren besetzte, unabhängige öffentlich-rechtliche Institution“ übertragen werden.

Welche Variante hat die besseren Chancen?

Die geplante Neuregelung der Organspende ist eine jener politischen Fragen, die im Bundestag als „Gewissensentscheidung“ gelten. Die Abgeordneten sollen bei diesem ethisch schwierigen Thema frei von den Zwängen ihrer Fraktionszugehörigkeit abstimmen.

Die Mehrheitsverhältnisse sind schwer einzuschätzen, weil sich viele Abgeordnete noch nicht öffentlich positioniert haben. Bei den Bundestagsdebatten waren allerdings starke Vorbehalte gegen eine Widerspruchslösung deutlich geworden.

Auch im Kabinett gibt es unterschiedliche Haltungen. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Sympathien für eine Widerspruchslösung erkennen lassen. Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) kündigte dagegen an, im Bundestag gegen den Vorschlag von Spahn zu stimmen.

Reicht eine höhere Spenderbereitschaft für die Lösung des Problems aus?

Die niedrige Zahl der Organspender in Deutschland hat auch strukturelle Ursachen. Zu oft fehlen in Krankenhäusern gut funktionierende Abläufe, um Spender zu erkennen und Organe zu entnehmen. Spahn hat die Defizite in einem anderen Gesetz adressiert, das im April 2019 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz stärkt die Rolle von Transplantationsbeauftragten in Krankenhäusern. Kliniken, in denen Organe entnommen werden, erhalten bessere Vergütungen von den Krankenkassen.

Und gerade kleineren Krankenhäusern ohne die nötige Expertise soll ein neuer Bereitschaftsdienst mit medizinischen Fachleuten helfen, die Voraussetzung für eine Organentnahme festzustellen. Das Bundesgesundheitsministerium vereinbarte außerdem mit einem Bündnis von Organspende-Organisationen einen Initiativplan, um die Organspendeverfahren und die Aufklärungsarbeit zu verbessern. Angedacht ist demnach auch, das Thema Organspende in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen, damit sich junge Menschen frühzeitig mit dieser Frage auseinandersetzen.