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Ausgerechnet Grün-Gelb! Plötzlich steht ein Bündnis von Grünen und FDP für Aufbruch bei Klima, Bildung, Digitalisierung — das steckt dahinter

Annalena Baerbock und Christian Lindner nehmen Olaf Scholz in die Mitte
Annalena Baerbock und Christian Lindner nehmen Olaf Scholz in die Mitte

Als der Wahlkampf jung war und die ersten Großplakate aufgestellt wurden, tauchte in der Republik ein sehr liberales Plakat auf: „Unser Land kann viel, wenn man es lässt.“ Aufgestellt hatten es die Grünen. Mit dem leuchtend gelben Zusatz: "Bereit, wenn Ihr es seid." Das Plakat hätte ebenso gut von der FDP kommen können. Die Liberalen plakatierten: „Wie es ist, darf es nicht bleiben“. „Kommt, wir ändern die Politik", echoten die Grünen. Im Rückspiegel erscheint das wie ein Flirt.

Offiziell aber begegneten sich Grüne und Liberale bis zum Wahltag wie die ärgsten Gegner, manchmal sogar wie Feinde und schossen die giftigsten Pfeile aus ihrem Polemik-Köcher ab: „Verbotspartei“ contra „Neoliberale“. Wer sich vor der Wahl mit Anhängern beider Lager unterhielt, bekam meist solche Einschätzungen:

Das Grünen-Milieu wollte am liebsten Rot-Grün, am zweitliebsten Rot-Rot-Grün und sahen in egal welchem Dreierbündnis mit der FDP eine gerade noch erträgliche Zumutung.

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Das liberale Milieu hoffte, dass es irgendwie doch noch für ein Bündnis unter Führung der Union reichen würde, gemeinsam werde man die Grünen dann schon einhegen. Eine Ampel mit SPD und Grünen? Eine vielleicht gerade noch erträgliche Zumutung.

Seit den ersten Prognosen am Wahlsonntag ist alles anders.

Annalena Baerbock stellt des liberalste grüne Wahlplakat aller Zeiten vor
Annalena Baerbock stellt des liberalste grüne Wahlplakat aller Zeiten vor

Mit erstaunlicher Dynamik entdecken Grüne und FPD seit Sonntag, 18 Uhr, ihre Möglichkeiten. Das Wahlergebnis gibt ihnen eine erstaunliche Macht, wenn FDP und Grüne es denn schaffen, sie gemeinsam auszuüben. Diese Aussicht lässt Grüne und Liberale mit frischem Blick auf ihre Gemeinsamkeiten schauen. Und siehe da! Sie sind größer, als sie selbst es lange wahrhaben wollten.

Nach ihrem ersten Treffen am Dienstag posteten die Parteichefs Annalena Baerbock, Robert Habeck und Christian Lindner ein lässiges Selfie mit FDP-Generalsekretär Volker Wissing: „Auf der Suche nach einer neuen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche. Spannende Zeiten", schrieb über das Foto aller vier. In seiner Ästhetik hätte es auch eine Pop-Band oder eine Wohngemeinschaft zeigen können.

Plötzlich steht Grün-Gelb für Aufbruch und Coolness. Vieles läuft im Moment auf eine Ampel-Koalition mit der SPD hinaus. Darin stünde ein SPD-Kanzler Olaf Scholz vor allem für Stabilität und eine Kontinuität der Merkel-Ära. Abzulesen ist das auch an der Wählerstruktur: Die SPD wurde vor allem von Älteren gewählt. Die jungen Wählerinnen und Wähler, jene, die Veränderung wollten, wählten: Grün-Gelb.

Bei den unter 25-Jährigen lagen die Grünen mit 23 Prozent vorn, knapp dahinter die FDP mit 21 Prozent. Bei den Erstwählerinnen und -wählern war es andersherum: die Liberalen knapp vor den Grünen. SPD und vor allem die Union als mögliche Kanzlerparteien in einer Ampel- oder Jamaika-Koalition spielen in der jungen Altersgruppe kaum eine Rolle. Andersherum gilt: Gemeinsam kommt Grün-Gelb bei den Jüngeren nah an eine absolute Mehrheit.

Nun sucht Grün-Gelb also sein „Projekt“ wie seinerzeit Rot-Grün nach der langen Ära des CDU-Kanzlers Helmut Kohl: damals war es eine gesellschaftliche Modernisierung. Das gemeinsame Projekt für Grün-Gelb könnte etwa so lauten: Aufbruch und Erneuerung für Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung, Altersvorsorge und eine Modernisierung des Staates.

Nun liegt es also an Baerbock, Habeck und Lindner. Sie müssen eine gemeinsame Basis finden – und sie müssen sich verstehen, Vertrauen zueinander haben. Das wird in Koalitionsverhandlungen am Ende wichtiger als viele Spiegelstriche der Vereinbarung. Entsprechend schalteten die drei schon in der Wahlnacht vom Gegner- in den Partnermodus und wählten dafür einen geschickten Weg. Sie betonten gleichzeitig ihre Gegensätze und ihren Willen, sie zu überbrücken. Sie wissen, dass viele Anhänger in ihren Parteien skeptisch sind. In dieses Narrativ passt auch das Selfie von Dienstagabend.

„Das ist ein Zeichen in der politischen Vernunft, dass die Parteien, die nach der politischen Weltenlehre erst einmal weit auseinander sind – das sind Grüne und FDP – erstmal schauen, wie man miteinander klarkommt. Das ist ein Zeichen von erwachsener Politik“, sagte Habeck am Wahlabend. „Das ist die allererste und wichtigste Frage." Ähnlich sagte es FDP-Chef Lindner. Es komme nun darauf an herauszufinden, ob es "ein gemeinsames fortschrittliches Zentrum" geben kann.

Es gibt sie, die Gemeinsamkeiten, sogar beim Überthema Klimaschutz. Grüne und FDP sind die Parteien mit den ambitioniertesten Zielen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Bisher verfolgen sie dazu aber zwei komplett unterschiedliche Wege. Die FDP setzt darauf, nur CO2-Ziele vorzugeben und dann Unternehmen im Wettstreit selbst Lösungen dafür finden zu lassen – technologieoffen. Die Grünen setzen auf stärkere Vorgaben und Eingriffe wie ein festes Datum für das Aus von Verbrenner-Autos oder eine Pflicht zu Solardächern. Eine Kombination aus beiden Ansätzen scheint möglich.

Die größte Gemeinsamkeit gibt es bei den Themen Digitalisierung und Modernisierung des Staates. Ähnliches gilt für die Bildungspolitik, wo Grüne und FDP ähnliche Ansätze verfolgen und eine stärkere Rolle des Bundes wünschen. Beim wichtigen Thema Altersvorsorge sieht Grün-Gelb sogar wie ein Gegenentwurf zur SPD aus. Während Olaf Scholz im Wahlkampf versprach, dass die Rente auf dem heutigen Niveau ohne Verlängerung der Lebensarbeitszeit auch für heute Jüngere für Jahrzehnte sicher sei, punktete die FDP bei vielen Jungen mit ihrer Idee einer Aktienrente.

Unterschiede in der politischen „Weltenlehre“

Auch die wichtigsten Gegensätze sind offenkundig. Da ist vor allem ein unterschiedlicher Gesellschaftsentwurf. Die Grünen sehen den Staat stärker in einer aktiven Rolle bei der Gestaltung der Gesellschaft und auch der Lebensumstände der einzelnen Menschen. Die Liberalen setzen stärker auf die Freiheit der einzelnen, für die der Staat nur Spielregeln definiert, aus denen sich dann die Gesellschaft und das Zusammenleben ergeben.

Daraus ergeben sich fast automatisch unterschiedliche Ansprüche an den Finanzbedarf des Staates, damit an die Steuern und auch eine unterschiedliche Sicht auf die Staatsverschuldung. Dies ist denn auch die größte Lücke, über die Baerbock, Habeck und Lindner eine Brücke bauen müssen.

Das Praktische bei Koalitionen aber ist, dass es gerade zu Anfang nicht darum geht, alle Punkte zu klären, bei denen man nicht einig ist. Viel wichtiger ist es, einen Vorrat an gemeinsamen Vorhaben anzulegen, den die Partner dann gemeinsam angehen können.

Als moderne Politiker wissen die führenden Grünen und Liberalen um die Macht der Bilder. Mit ihren Wahlplakaten und mit ihrem jüngsten Selfie senden sie ein klares Signal: „Wir wollen.“