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Aufbruch in der CDU – aber wohin?

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stellen die Unionsparteien in den nächsten Jahrzehnten die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler. Wie bitte? Okay, ich gebe zu: Das kann man so nicht stehen lassen, das ist so nicht richtig. Aber auch nicht wirklich falsch.

Dazu reicht ein Blick auf zwei Datensätze. Erstens auf den Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland, veranschaulicht in der so genannten Bevölkerungspyramide: Sie hat, wie jeder weiß, keine breite Basis mehr und keine linear-spitz zulaufende Form. Sondern sie ähnelt heute der Figur eines Menschen, der deutlich zu viel auf den Hüften hat - und sie wird 2060 der leicht geschwungenen Silhouette eines New Yorker Wolkenkratzers ähneln, der sich bis weit nach oben hin langsam verbreitert, um sich erst dann allmählich zu verjüngen. Anders gesagt: Der relativ größte Anteil der Bevölkerung in Deutschland verlagert sich von den 45- bis 55-Jährigen in Richtung der 65- bis 75-Jährigen.

Zweitens auf die Wahlergebnisse der Union. Bei der jüngsten Landtagswahl in Hessen zum Beispiel stimmten nur 17 Prozent der Erstwähler und nur 20 Prozent der Unter-34-Jährigen für die CDU, jedoch 42 Prozent der Über-70-Jährigen. Ein ähnliches Zeugnis legte die Union bei der Bundestagswahl ein Jahr zuvor ab: Nur jeder vierte Wähler bis 35 vertraut der Union seine Stimme an, aber fast jeder Zweite jenseits der 70. Tatsächlich kann man, ganz ohne Sinn für Zuspitzung sagen: Die Union verdankt ihre hegemoniale Stellung vor allem der Transformation Deutschlands von einer zukunftsoffenen Industrienation in eine besitzstandskonservierende Rentnerrepublik. Wer jung ist, wagt (vielleicht) noch etwas und greift an. Wer älter wird und alt ist, belässt lieber alles, wie es ist – und verteidigt das Erreichte.

Wenn ihr die singuläre Stellung in der deutschen Parteienlandschaft demographisch in den Schoß fällt, heißt das umgekehrt aber auch: Nur sie selbst steht ihrem dauerhaften Erfolg im Wege. Es gehört schließlich zu den stillen Gesetzen der politischen Farbenlehre, dass auch die meisten jungen Freigeister und progressiven Rotaktivisten im Laufe der Jahre mehr oder weniger nachdunkeln. Die Union ist in diesem Sinne so etwas wie die politische Entsprechung der Samstagabendshows in ARD und ZDF: Man findet sie in jungen Jahren schlicht unmöglich – und schaltet sie mit 70, mehr oder weniger verstohlen, ein.

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Die schleichende, sich seit drei Jahren zuspitzende Identitätskrise der Angela-Merkel-Union hat daher nur oberflächlich mit Euro- und Migrationsfragen zu tun, auch nicht mit dem „konservativen“ Kern, den die Bundeskanzlerin mit ihrer entschieden unentschiedenen Politik angeblich verraten hat. Was statt dessen abhanden kam, ist das Vertrauen der Bürger in die Union als Partei der gelingenden „Hintergrunderfüllung“: Sie soll dafür sorgen, dass man sich nicht allzu viel Sorgen machen muss, genauer: den paradoxen Wunsch der meisten Deutschen erfüllen, dass sich bei allen Veränderungen im Laufe der Zeit nicht viel ändert. Die Union ist die Partei, die die Ärgernisse der Welt traditionell aus den Vorgärten der Deutschen auszäunt, die ihnen die Probleme vom Leibe hält, damit man rechtschaffen seiner Arbeit und seinen Pflichten nachgehen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Und genau das schafft die Union seit einigen Jahren nicht mehr. Für die Jungen ist sie mehr denn je von gestern – zu traditionsbeladen und retrokulturell, vor allem aber zu wenig start-up-orientiert und mentalitätsmodern. Sie wollen von großen und grenzenlosen Fragen behelligt werden, weil man sie offensichtlich nicht auszäunen kann; sie möchten etwa ganz selbstverständlich den Klimawandel bearbeitet wissen und verzweifeln an einer Rentenpolitik, deren Systematik das Vorgestern als Patenrezept fürs Übermorgen ausweist. Anders gesagt: Sie fühlen sich mehrheitlich dort aufgehoben, wo sie ein normativen Kern vorfinden, ein politischen Selbstanspruch.

Und für die Alten wiederum sind die Zäune der CDU-Führung nicht mehr hoch genug: Sie werden bedrängt von Gender- und Religionsfragen, die sich nicht im Entferntesten interessieren, und sie wollen ihre Scholle gegen den Ansturm der Wurzellosigkeiten verteidigen, gegen ein Anything goes, das – ganz gleich ob an der Börse oder im lebenskulturellen Alltag – ihnen allen Halt raubt, das alles egalisiert, was ihnen ein Leben lang wertvoll erschien: Mass und Mitte, Anstand und Sitte.

Kurzum: Für die Union kommt es, ganz gleich, wer sie ab nächsten Freitag führt, nicht auf „Aufbruch“ und „Erneuerung“ an, so sehr Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz oder Jens Spahn auch meinen, mit diesem Vokabular bei den Deutschen, bei ihren Wählern wuchern zu können. Denn so erfrischend die CDU ihr basisdemokratisches Rendezvous mit sich selbst auch findet - die Wahrheit ist: Sie kann bei jungen Wählern nichts zurückgewinnen ohne bei den Alten zu verlieren und umgekehrt.

Es sei denn, sie reißt einerseits Vorgärtenzäune ein und stellt sich endlich globalen Problemen, die dringend adressiert gehören (Klima, Ungleichheit, Geld- und Konzernmacht) – und vermittelt andererseits zugleich ein buchstäblich grenzenloses Ordnungs-, Identitäts- und Sicherheitsgefühl, in dem man sich gutnachbarschaftlich aufgehoben fühlt. Mit einem Wort: (Nur) als moderne, sozialmarktwirtschaftliche Europapartei hätte die Union wieder eine Chance. Wird sie sie ergreifen?