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Atomkraft für Klimaschutz? Energiekonzerne sind von neuen Pro-AKW-Demos genervt

Die deutschen Kernkraftwerke sind wieder Ziel von Protesten – dieses Mal aber pro Atomkraft. Dabei haben die Betreiber überhaupt kein Interesse daran.

Der Atomausstieg ist beschlossen, Widerstand gibt es aber noch immer – auch pro Atomkraft. Ausgerechnet die Klimaschutzbewegung gibt den Befürwortern wieder Rückenwind. Foto: dpa
Der Atomausstieg ist beschlossen, Widerstand gibt es aber noch immer – auch pro Atomkraft. Ausgerechnet die Klimaschutzbewegung gibt den Befürwortern wieder Rückenwind. Foto: dpa

Vor den deutschen Atomkraftwerken bietet sich seit Wochen ein altbekanntes, aber auch skurriles Bild: Es wird wieder protestiert. Jahrzehntelang standen die Reaktoren im Sturm der Anti-AKW-Bewegung. Seit die Umweltschützer den Atomausstieg durchgesetzt haben, war es ruhig geworden. Jetzt versammeln sich aber reihum von einem Reaktor zum anderen wieder Demonstranten.

Anfang September waren sie bei Brokdorf in Schleswig-Holstein. Dann folgten Lingen und Grohnde in Niedersachsen, vorletztes Wochenende kam der Protestzug bei den bayerischen Reaktoren Isar 1 und Gundremmingen an – und am kommenden Wochenende wird sich vor dem Atomkraftwerk Neckarwestheim in Baden-Württemberg positioniert.

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Die Botschaft ist allerdings komplett anders als in der Vergangenheit: Die Demonstranten fordern nicht den noch schnelleren Ausstieg aus der Atomkraft, sondern ein neues Leben für die Kraftwerke. „Wir demonstrieren für den Weiterbetrieb unserer CO2-freien Kraftwerke“, lautet die Parole des Vereins Nuklearia, des Initiators der Proteste.

Ausgerechnet die Klimaschutzbewegung gibt den Atomkraftbefürwortern wieder Rückenwind. Seit jeher haben sie der Kritik an dem gewaltigen Risiko und den gefährlichen Altlasten der umstrittenen Technologe die Klimafreundlichkeit des Atomstroms entgegengehalten. Selbst in Deutschland, wo das letzte AKW im Jahr 2022 vom Netz gehen soll, schöpfen sie neue Hoffnung.

„Ohne Kernenergie können wir die Klimaziele nicht erreichen“

Ihre größten Verbündeten der Vergangenheit haben die Protestler aber längst verloren: die Betreiber der AKW. Eon, RWE, EnBW und Vattenfall haben nämlich gar kein Interesse mehr an einer Verlängerung der Laufzeiten. Um die hierzulande wohl umstrittenste Energieform ist ein skurriler Streit wieder aufgeflammt.

„Es gibt zwei große Fragen: Was machen wir mit dem Atommüll, und was machen wir mit dem Klima? Mit dem Atommüll haben wir Zeit, das können wir später noch lösen, mit dem Klima nicht, das müssen wir jetzt lösen“, sagt der Vorsitzende von Nuklearia, Rainer Klute, dem Handelsblatt.

Und in den Augen des studierten Physikers liegt die Lösung für das Klimaproblem auf der Hand: „Ohne Kernenergie können wir die Klimaziele nicht erreichen. Wir wollen den Boden für den Wiedereinstieg vorbereiten.“

Im Verein haben sich Wissenschaftler, Techniker und ehemalige Mitarbeiter der Atomunternehmen versammelt, die die Entscheidung noch immer nicht akzeptieren wollen, die die damalige Bundesregierung im Sommer 2011 getroffen hat: Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurde die gerade eben noch beschlossene Verlängerung der Laufzeiten revidiert und das endgültige Aus der Atomkraft besiegelt. Damals waren noch 17 Reaktoren in Betrieb. Jetzt sind es noch sechs – ebenjene Standorte, an denen der 59-jährige Klute und seine Mitstreiter demonstrierten.

Die Bewegung nutzt die Argumente von Fridays for Future

Und nachdem die Schlacht längst geschlagen schien, wittern sie wieder Morgenluft. Die Argumente liefern ihnen gerade die Aktivisten, mit denen sie sich jahrzehntelang einen erbitterten Kampf lieferten: die Umweltschützer. Am vergangenen Wochenende mischten sich bei der Klimademonstration in Berlin auch vereinzelte Mitglieder von Nuklearia unter die Demonstranten. „Klimakrise? Kernkraft!“, stand auf ihren Schildern.

Tatsächlich gilt die uranbasierte Energie als CO2-arm. Während sie im reinen Betrieb keine direkten Emissionen verursacht, fallen durch den Abbau und die Verarbeitung von Uranerz, die Brennelementherstellung und die Erzeugung der nuklearen Elektrizität allerdings auch Treibhausgase an. Trotzdem steht Atomkraft in der CO2-Bilanz deutlich besser da als Kohle oder Erdgas. Und nur wenig schlechter als Solar- oder Windenergie.

Immer öfter fordern deshalb Wissenschaftler, Unternehmer und Aktivisten, die Kernenergie im globalen Kampf gegen den Klimawandel neu zu bewerten.

Der prominenteste Fürsprecher dürfte wohl Microsoft-Gründer Bill Gates sein. In einem offenen Brief an seine Angestellten schrieb er 2018: „Kernenergie ist ideal, um dem Klimawandel zu begegnen, weil es die einzige CO2-freie, skalierbare Energiequelle ist, die 24 Stunden am Tag verfügbar ist.“ Die Probleme bei derzeitigen Reaktoren – etwa das Unfallrisiko – könnten mit Innovationen gelöst werden.

Eine Milliarde US-Dollar will Gates nach eigenen Angaben in seine Firma Terra Power investieren, die an neuartigen Atomreaktoren forscht. Eine Gruppe Wissenschaftler bezeichnete den Ausstieg aus der Atomkraft im Fachmagazin „Science“ gar als „schweren Fehler“ – denn dann würden die Treibhausgasemissionen erst recht steigen.

In Ländern wie Schweden oder Frankreich wird Atomenergie ohnehin noch als Brückentechnologie gesehen. Und die niederländische Regierung beschloss erst vor wenigen Tagen, den Bau neuer Atomkraftwerke zu prüfen. Die Regierungspartei VVD von Ministerpräsident Mark Rutte brachte einen entsprechenden Antrag ins Parlament ein, und das Wirtschaftsministerium präsentierte eine Studie zu den Vorteilen der Kernenergienutzung.

Selbst der VW-Chef hat sich pro Atomkraft ausgesprochen

In Deutschland wird der Atomausstieg zwar von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen, immer wieder finden sich aber auch hier prominente Unterstützer. Aufsehen erregte etwa Volkswagen-Chef Herbert Diess im vergangenen Jahr, als er sich öffentlich pro Atomkraft positionierte: „Ich würde erwägen, den Atomausstieg infrage zu stellen, ja, vor allem weil wir noch nicht über ausreichend regenerative Energiequellen verfügen“, sagte der VW-Manager damals der Wochenzeitung „Die Zeit“.

So mutig wie Diess sind zwar wenige, seine Sorgen werden aber in weiten Teile der Wirtschaft geteilt. Schließlich hat Deutschland in diesem Jahr nach dem Atom- auch den Kohleausstieg beschlossen.

Tatsächlich könnten in Deutschland insgesamt 50 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, wenn die verbliebenen sechs Kraftwerke noch bis 2040 am Netz blieben. Das entspräche fast sieben Prozent der Gesamtemissionen des Landes. Für Nuklearia-Gründer Klute ist das Problem mit dem radioaktiven Atommüll dabei ganz klar „das kleinere Übel“. „Natürlich gibt es da auch noch andere Herausforderungen. Die Kernkraftbetreiber haben Ausstiegstermine geplant, das Personal ist darauf ausgerichtet, genauso wie der Brennelementeinsatz, und natürlich müssten die Kraftwerke modernisiert werden. Aber es ist möglich“, ist er überzeugt.

Das Problem: Die Unternehmen selbst sehen das ganz anders – auch wenn viele Mitarbeiter in den AKWs die Argumentation der Befürworter natürlich noch teilen. „Die Argumente des Nuklearia-Vereins sind nicht neu“, sagt Guido Knott, Vorsitzender der Geschäftsführung von Preussen Elektra, der Atomsparte von Eon.

Dass Kernkraftwerke einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten, sei seit Langem bekannt und 2010 auch für die zwischenzeitliche Verlängerung der Laufzeiten herangezogen worden. Aus bekannten Gründen habe sich die Politik wenig später anders entschieden und ein schnelles Ende der Kernenergie beschlossen.

„Wir akzeptieren diese politische Entscheidung, die von einer breiten Mehrheit getragen wurde“, hält Knott deshalb heute fest. Sein Unternehmen habe sich schon lange auf den Rückbau seiner Flotte eingestellt. Zwei Anlagen seien bereits fast vollständig rückgebaut, in anderen Anlagen liefen die Arbeiten auf Hochtouren, und die drei noch laufenden Anlagen würden seit Jahren ganz konkret auf den Rückbau vorbereitet. „Eine Laufzeitverlängerung ist für uns damit keine Option“, hält Knott entschlossen fest.

Eon, RWE, EnBW und Vattenfall haben sich neu orientiert

Und genauso wenig haben die anderen Betreiber RWE, EnBW und Vattenfall ein Interesse an einer Renaissance der Kernenergie. Die Unternehmen wehrten sich zwar anfangs gegen das abrupte Aus und reichten zahlreiche Klagen ein. Letztlich ging es aber nur um eine Entschädigung, die sie auch zugesprochen bekamen.

Vor allem aber wurde die Frage geklärt, wie Rückbau und Endlagerung organisiert werden sollen. Während die Unternehmen für den Rückbau verantwortlich sind, wurde die Verantwortung für die strahlenden Altlasten auf einen öffentlich-rechtlichen Atomfonds übertragen.

Die Unternehmen mussten zwar 24 Milliarden Euro aufbringen, entledigten sich aber damit des unangenehmen Themas. Mit der Suche nach dem passenden Endlager, die jetzt in eine neue Stufe eintritt, haben die AKW-Betreiber nichts mehr zu tun.

Die Unternehmen haben sich selbst inzwischen der Energiewende verschrieben. Eon stieß schon 2017 die Kohle- und Gaskraftwerke ab und sieht die Zukunft im Vertrieb und dem Netzgeschäft. Die Tochter Preussen-Elektra liefert zwar noch Gewinne, wird aber als Nicht-Kerngeschäft geführt.

Selbst Deutschlands größter Stromproduzent RWE hat sich den erneuerbaren Energien verschrieben. Nachdem inzwischen auch der Kohleausstieg beschlossen ist, will der Konzern bis 2040 klimaneutral werden – aber erklärtermaßen ohne Kernenergie.

Das hat nicht zuletzt auch wirtschaftliche Gründe. Die Niederlande berufen sich zwar auf eine Studie, die der Atomenergie eine hohe Wirtschaftlichkeit bescheinigt. Die wurde aber von dem Beratungsunternehmen Enco erstellt. Kritiker zweifeln deswegen die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Studie an. Denn Enco wurde 1994 nach eigenen Angaben von ehemaligen Mitgliedern der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) gegründet. Die IAEA wurde 1957 von den Vereinten Nationen zur Förderung der Atomenergie eingerichtet.

Tatsächlich kommen deutsche Behörden und unabhängige Forschungsinstitute zu einem anderen Ergebnis. Nach Berechnungen von Umweltbundesamt und Fraunhofer-Institut kostet die Erzeugung einer Kilowattstunde Atomstrom inklusive aller Folgekosten wie Rückbau, Zwischen- und Endlagerung 34 Cent. Zum Vergleich: Solar- und Windstrom gibt es mittlerweile schon für zwischen vier und zwölf Cent.

Das alles lässt Nuklearia nicht aufgeben: „Wir können es uns nicht leisten, auf die Kernenergie zu verzichten“, ist Klute überzeugt: „Wenn man es wirklich will, dann geht es.“ Es will nur keiner der Betreiber mehr.

Die Atomkraftbefürworter kapern die Argumente von Bewegungen wie Fridays For Future. Foto: dpa
Die Atomkraftbefürworter kapern die Argumente von Bewegungen wie Fridays For Future. Foto: dpa