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Arme Bärchenwurst! Immer mehr Deutsche verzichten aufs Schwein

(Bloomberg) -- Seit über zwei Jahrzehnten erfreut die Fleischfabrik Reinert im niedersächsischen Vörden Kinderherzen in Deutschland mit ihrer Bärchenwurst. Der geformte Aufschnitt aus verschiedenfarbigen Fleischmassen zeigt die innovationsfreudige Seite einer Branche, die stark auf Traditionen und Essgewohnheiten baut. Und diesen Innovationssinn wird sie brauchen, denn die Liebe der Deutschen zum Schweinefleisch ist auf dem Rückzug. Selbst die Vördener Bärchenwurst-Fabrik — inzwischen Teil der Gruppe The Family Butchers — muss schließen.

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“Die Fleisch- und Wurstindustrie befindet sich inmitten einer beispielslosen Umwälzung”, erklärte zur Begründung der Schließung The Family Butchers, die im Jahr 2019 aus der Fusion der Fleischgroßbetriebe Reinert und Kemper hervorging. Die Maßnahme ist ein Sinnbild für den Zustand der heimischen Schweinefleischindustrie, die mit einem enormen Nachfragerückgang, den Folgen der Afrikanischen Schweinepest, Inflation und Energiekrise sowie neuen Tierschutzbestimmungen zu kämpfen hat, die die Aufzucht von Schweinen besonders schwierig gemacht haben.

Mit den Verbrauchern schwinden die Betriebe. Während der Durchschnittsdeutsche 2007 noch rund 40 Kilogramm Schweinefleisch pro Jahr verzehrte, waren es 2022 nur noch 29 Kilogramm — und das, während der Verzehr von Rind- und Hühnerfleisch mehr oder weniger konstant blieb. Der Schweinebestand ist in den zwei Jahren bis November um fast ein Fünftel geschrumpft, ebenso wie die Zahl der Schweinemastbetriebe. The Family Butchers, der zweitgrößte Wursthersteller des Landes, ist nicht der erste Betrieb, der das Messer ansetzen muss.

Eckhart Neun, ein Fleischermeister aus dem hessischen Gedern, einer Kleinstadt in der Wetterau, sieht neben der schwindenden Nachfrage auch die steigenden Kosten am Werk: Energie-, Düngemittel- und Futtermittelpreise setzen kleinere Betriebe wie seinen unter Druck. “Das ist wie Dominos, das eine spielt dem anderen in die Karten”, sagt Neun, der auch Vizepräsident des Deutschen Fleischerverbandes ist.

Schweinefleisch verliert weltweit an Beliebtheit, aber der Trend ist in Europa besonders ausgeprägt. Der Verbrauch in der EU wird in diesem Jahr voraussichtlich auf den niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahrzehnten sinken, und in den nächsten zwei Jahren soll die Produktion um etwa ein Zehntel zurückgehen. Auch die Erzeuger in den USA haben mit schrumpfenden Gewinnen, nachlassender Nachfrage, steigenden Kosten und mehr Regulierung zu tun. Selbst in China, das mehr als die Hälfte des weltweiten Schweinefleischs konsumiert, schwenkt die aufstrebende Mittelschicht auf Rindfleisch als gesündere Alternative um, berichtet eine rezente Studie von McKinsey.

Dennoch sticht die Situation in Deutschland hervor, wo die Schweinefleischerzeuger einen perfekten Sturm aus ungünstigen wirtschaftlichen Trends, breiteren demografischen und kulturellen Veränderungen und den Folgen von Gesundheitskrisen überstehen müssen, die sowohl die Produktion als auch die Nachfrage dezimierten.

Laut Frank Greshake von der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit der höchsten Anzahl an Schweinebetrieben, ernähren sich die Deutschen generell weniger fleischintensiv. Die Zahl der selbsterklärten Vegetarier steigt. Laut dem Ernährungsreport 2022 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ernähren sich 44% der Befragten “flexitarisch”, essen also gelegentlich Fleisch, verzichten aber ab und zu bewusst darauf.

Zu den Gründen für diesen Wandel zählen gesundheitliche Bedenken beim übermäßigen Verzehr vor allem von verarbeitetem Fleisch wie Wurst und Schinken. Der große ökologische Fußabdruck der Fleischproduktion ist ein weiterer Treiber für den Verzicht. Demografisch gesehen machen Muslime, von denen viele aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen, inzwischen fast 7% der deutschen Bevölkerung aus.

Aber nicht nur Menschen, die Schweinefleisch aus prinzipiellen Gründen meiden, beeinflussen die Nachfrage, sondern auch die Vorlieben verändern sich entlang der Generationen. Jüngere Deutsche bevorzugen Pizza, Döner und Burger gegenüber Würstchen, wie eine YouGov-Umfrage für die Nachrichtenagentur DPA im vergangenen Dezember ergab. Die schweinefleischlastige traditionelle deutsche Küche steht nurmehr bei den über 35-Jährigen noch an erster Stelle — jüngere Erwachsene und Frauen aller Altersgruppen essen lieber italienisch.

Im Jahr 2020 nahm China den Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest zum Anlass, die Einfuhr von Schweinefleisch aus Deutschland zu stoppen, ein besonderer Tiefschlag für die deutschen Erzeuger. Vor diesem Einfuhrverbot, das immer noch in Kraft ist, war China das wichtigste Exportland für deutsche Schweinehalter, die vor allem Teilstücke wie Füße, Schwänze und Ohre lieferten. Auch die Pandemie traf die Branche schwer.

Besonders hart traf die deutschen Schweinehalter auch der Anstieg der Energiepreise nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine im vergangenen Jahr. Das liegt vor allem daran, dass die Ställe von Ferkeln im Gegensatz zu Kühen im Winter geheizt werden müssen.

Ein weiterer belastender Faktor sind die verschärfte Tierschutzvorschriften, die kostspielige Investitionen in den Auslauf für die Tiere und geräumigere Ställe erforderlich machen. Angesichts der schwindenden Nachfrage ist es für die Fleischproduzenten schwer, diese höheren Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Viele Landwirte, die sich dem Rentenalter nähern und keine Nachfolger finden, sehen auch keinen Sinn darin.

“Wenn Sie jetzt 55 sind — da wird wohl unserer durchschnittlicher Schweinehalter sein — bauen Sie nicht mehr”, sagt Greshake von der Landwirtschaftskammer. “Und wir haben in den letzten Jahren massiv permanent neue Auflagen gekriegt.”

Selbst Landwirte, die bereit und in der Lage sind, in bessere Tierhaltung zu investieren, haben Schwierigkeiten, ihre Kosten zu decken, so Sven Häuser, Bereichsleiter für Tierhaltung und Betriebsführung bei der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. “Wir sehen immer wieder dass der Bürger einfach unheimlich preissensibel ist”, sagt er. “Natürlich sagen sie, dass sie bereit sind, mehr zu zahlen, wenn es dem Tier auch besser geht, aber wenn wir über Inflation von 10% für Lebensmittel reden und wirklich jeder Euro umgedreht werden muss, dann achtet man verständlicherweise doch auf Angebote und greift zu günstigerem Fleisch.”

Wolfgang Kühnl, der Mitinhaber von The Family Butchers, beklagt die Auswirkungen, die all dies auf die Branche haben könnte. “In zehn Jahren”, sagte er in einem Interview mit dem Handelsblatt, “wird der Wurstmarkt wahrscheinlich um ein Drittel geschrumpft sein. Von den mehr als 100 Herstellern werden viele aufgeben oder geschluckt werden.”

Bei den deutschen Schweinefleischproduzenten sorgt die Krise auch für eine Diskussion über die Zukunftsfähigkeit der Branche. Viele Wursthersteller der alten Schule setzen bereits auf Alternativen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes steigt die Produktion von Fleischersatz auf pflanzlicher Basis zwischen 2019 und 2022 um 73%. Die Rügenwalder Mühle, einer der größten deutschen Wursthersteller mit einer fast zweihundertjährigen Geschichte, brachte 2014 seine ersten pflanzlichen Produkte auf den Markt und macht damit inzwischen mehr Umsatz als mit herkömmlichen Fleischprodukten.

Claudia Hausschild, Leiterin des Nachhaltigkeitsmanagements bei Rügenwalder, hält das Unternehmen dadurch besser für die Abkehr vom Fleisch gerüstet.

“Wir wollen niemanden bekehren oder ihm vorschreiben, was er essen soll”, sagt Hausschild. “Wir sehen aber auch, dass es bis zu einem gewissen Grad von den Verbrauchern abhängt, wie lange wir unsere Fleischprodukte noch anbieten werden.”

Überschrift des Artikels im Original:As Germany’s Romance With Pork Fades, Sausages Get the Chop

--Mit Hilfe von Hallie Gu.

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