Arbeitsmarkt paradox: Beschäftigung steigt erstmals auf 46 Millionen, gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit – das steckt dahinter
Romanus Otte
Am Arbeitsmarkt wachsen trotz eines historischen Rekords bei der Beschäftigung die Sorgen. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg im September erstmals auf 46 Millionen, teilte das Statistische Bundesamt mit. Nie zuvor hatten in Deutschland so viele Menschen Arbeit. Doch der Höhepunkt dürfte erreicht sein. Die übliche Herbstbelebung am Arbeitsmarkt fiel schwach aus. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Arbeitslosen im Oktober um 165.000 auf 2,61 Millionen, teilte die Bundesagentur für Arbeit mit. Umfragen bei Firmen und Jobcentern zeigen: Die Arbeitslosigkeit dürfte bald spürbar zunehmen.
„Dem Arbeitsmarkt steht ein schwieriger Winter bevor“, sagt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber. „Die gemeldete Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist erneut zurückgegangen“, kommentierte die Bundesagentur. „Arbeitslose Menschen haben sehr niedrige Chancen auf eine neue Beschäftigung“.
Hier sind die wichtigsten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt – jeweils mit Grafiken verdeutlicht:
46 Millionen: Rekord bei der Zahl der Erwerbstätigen
Für die Beschäftigung legte das Statistische Bundesamt legte die Zahlen für den September vor – und meldet einen Rekord. Insgesamt waren erstmals 46 Millionen Personen erwerbstätig. Nie zuvor in der Geschichte hatten in Deutschland so viele Menschen Arbeit.
Bemerkenswert ist, dass die Beschäftigung in Deutschland trotz der zurückliegenden Krisen und der aktuell schwachen Konjunktur auf Rekordniveau ist. Darin spiegelt sich auch der Fachkräftemangel wider. Unternehmen haben immer noch viele offene Stellen. Sie stellen Personal ein, wenn sie passende Kandidaten finden. Gleichzeitig halten sie Beschäftigte auch in wirtschaftlich schwierigerer Zeit, weil sie fürchten, später keine geeigneten Bewerber zu finden. Das hat den Arbeitsmarkt so „robust“ gemacht.
Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Erwerbstätigkeit immerhin noch um 291.000 Menschen. Die Dynamik lässt aber nach. Rechnet man übliche Saisoneffekte heraus, blieb die Beschäftigung zum August unverändert. „Insgesamt hat sich das Niveau der Erwerbstätigkeit in den vergangenen Monaten kaum verändert“, schreiben die Statistiker.
Die Grafik zeigt die Veränderung der Beschäftigung und macht die nachlassende Dynamik deutlich.
Arbeitslosenzahl steigt zum Vorjahr
Zur Arbeitslosigkeit legte die Bundesagentur für Arbeit bereits die Oktober-Zahlen vor. Die Zahl der Arbeitslosen ging zum September um 20.000 auf 2,61 Millionen zurück. Dabei ist zu aber beachten, dass die Arbeitslosenzahl im Herbst nach den Sommerferien stets abnimmt. Ohne diesen Saisoneffekt nahm die Arbeitslosigkeit um 30.000 Menschen zu.
Deutlich wird die kritische Entwicklung beim Vergleich zum Vorjahr. Zum Oktober 2022 waren jetzt 165.000 mehr Menschen arbeitslos gemeldet. Der negative Abstand zum Vorjahr wird seit Monaten größer.
Eine Rolle spielen in der Statistik derzeit die vielen Menschen aus der Ukraine, die in Deutschland Schutz vor Russlands Angriff auf ihr Land suchen. Sie dürfen – anders als andere Geflüchtete – sofort arbeiten und gehen daher auch in die Statistik ein. Je nachdem, ob sie Arbeit finden oder nicht, erhöhen sie die Zahl der Beschäftigten oder Arbeitslosen. Dies erklärt auch das scheinbare Paradox, dass in Deutschland sowohl Beschäftigung als auch Arbeitslosigkeit im Jahresvergleich steigen.
Auch die in Deutschland traditionell niedrige Jugendarbeitslosigkeit steigt. Im Oktober stieg die Zahl der Arbeitslosen unter 25 Jahren im Vergleich zum Vorjahr um 22.000 auf 232.000.
Die gesamte Arbeitslosenquote blieb im Oktober mit 5,7 Prozent unverändert. Im Laufe eines Jahres ist sie um 0,4 Prozentpunkte gestiegen.
Die Unterbeschäftigung nimmt zu
Die Unterbeschäftigung ist höher als die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen. Sie bezieht zusätzlich auch Menschen ein, die grundsätzlich arbeiten wollen, dem Arbeitsmarkt aber vorübergehend nicht zur Verfügung stehen. Gründe können sein, dass sie sich in Schulungen oder Sprachkursen der Jobcenter auf einen neue Arbeit vorbereiten oder aus persönlichen Gründen nicht arbeiten können.
Diese Unterbeschäftigung lag im Oktober bei 3,44 Millionen Personen. Das waren genauso viele wie im September, aber 190.000 mehr als vor einem Jahr. Diese Zahl enthält zahlreiche Ukrainerinnen, die zum Beispiel Sprachkurse belegen, um sich auf eine Beschäftigung vorzubereiten. Auch ohne ukrainische Geflüchtete lag die Unterbeschäftigung um 122.000 über dem Vorjahr, schreibt die Bundesagentur.
So schätzen Unternehmen und Jobcenter die Aussichten für den Arbeitsmarkt ein
Das Beschäftigungsbarometer des Ifo-Instituts zeigt, dass die Einstellungsbereitschaft der Firmen im Oktober zugenommen hat, wenn auch nur leicht. Der Index stieg von 95,8 auf 96,2 Punkte. Ein Wert von 100 gilt als neutral. Der aktuelle Index deutet also immer noch auf eine abnehmende Beschäftigung hin. „Die Unternehmen sind weiterhin zurückhaltend bei Neueinstellungen“, sagt Ifo-Experte Klaus Wohlrabe.
„Trotz der Zurückhaltung treibt der Fachkräftemangel die Unternehmen weiterhin um“, ergänzt Wohlrabe. In der Industrie planten insbesondere energieintensive Branchen mit weniger Personal. Auch im Handel und im Baugewerbe gibt es eine leichte Tendenz zu weniger Mitarbeitenden. Einzig Dienstleister wollen verstärkt einstellen. Vornehmlich IT-Dienstleister und Touristikunternehmen suchen Mitarbeiter.
Ifo befragt für sein Barometer 9.500 Unternehmen zu ihrer Personalplanung in den kommenden drei Monaten.
Das Arbeitsmarktbarometer des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fiel im Oktober um 0,4 Punkte auf 99,5 Punkte. Auch dieser Frühindikator liegt damit unter die neutrale Marke von 100. „Dem Arbeitsmarkt steht ein schwieriger Winter bevor“, sagt IAB-Experte Enzo Weber.
Das IAB-Barometer fragt bei den Jobcentern zwei Erwartungen ab, zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigung. Die Vorhersage der Arbeitslosigkeit fiel um 0,7 auf 96,4 Punkte. Ein Wert unter 100 deutet auf eine steigende Arbeitslosigkeit hin. „Die Arbeitsagenturen erwarten, dass der Wirtschaftsabschwung die Arbeitslosigkeit weiter steigen lässt“, so Weber. Die Vorhersage der Beschäftigung blieb mit 102,6 Punkten aber positiv.