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Arbeiten wie ein Roboter mit Gehirn – Japan und seine Liebe zu Regeln und Leitfäden

In Japan gibt sogar Leitfäden für die richtige Benutzung einer Treppe. Diese Regelvernarrtheit fließt auch in die Unternehmenskultur von Toyota ein.

Das Schlafen in der U-Bahn ist in den japanischen Lebensregeln bestimmt nicht vorgesehen. Foto: dpa
Das Schlafen in der U-Bahn ist in den japanischen Lebensregeln bestimmt nicht vorgesehen. Foto: dpa

Japans U-Bahnstationen gleichen einem begehbaren Knigge. Auf den Bahnsteigen, Eingängen und Tunneln unterrichten sogenannte „Benimmposter“ die Passagiere über formvollendetes Verhalten im öffentlichen Personennahverkehr. Fast schon humorig wirken Ermahnungen, das Bahnpersonal nicht zu misshandeln, nicht auf Handys zu starren oder betrunken über den Bahnsteig zu torkeln. Meist wird allerdings der richtige Umgang mit anderen Passagieren gelehrt.

Ein neues Poster schildert in sechs Szenen, wie Passagiere Rollstuhlfahrern, Blinden mit und ohne Blindenhund, Müttern mit Kindern, Schwangeren wie Alten und sogar Ausländern helfen können. Im letzten Fall legen die Macher des Posters den Japanern nahe, sich den Besuchern freundlich mit einem „May I help you?“ zu nähern.

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Diese Liebe zu Leitfäden ist nicht auf die U-Bahn beschränkt. Ausländischen Besuchern fällt oft auf, wie geordnet das Leben selbst in der größten Megacity der Welt stattfindet. Oft scheint der Alltag einstudiert zu sein. Ob Begrüßungen oder das Herausgeben des Wechselgeldes, jede öffentliche Handlung folgt festen Ritualen.

Und das nicht ohne Grund. „Das Leben ist sehr regelbestimmt in Japan“, sagt Roman Ditzer, Japan-Experte und Inhaber des Management-Reiseveranstalters RD interlogue. Auch in anderen Ländern gäbe es Regeln für alle möglichen Vorgänge, gesellschaftliche Anlässe und das Arbeitsleben. „Aber Japan ist in dieser Hinsicht extrem.“

Drei Monatsgehälter für den Verlobungsring

Selbst Geschenke und Gegengeschenke sind kodifiziert. Von Frauen wird beispielsweise erwartet, dass sie am Valentinstag ihrem liebsten Mann Schokolade schenken. Die Schokoladenindustrie erfand dann später den „White Day“, an dem der Mann das Geschenk in Schokolade erwidern muss, am besten im mehrfachen Wert. Selbst für den Preis von Verlobungsringen gibt es eine Formel: Er sollte mindestens das Dreifache des Monatseinkommens des Mannes kosten.

Solche Verhaltensvorschriften wirkt im Westen inzwischen fremd, weiß der Buchautor, Filmregisseur und Managementtrainer Roger Pulvers, der seit Jahrzehnten Japans Kultur seziert. Denn die Zeiten, in denen das Werk des deutschen Adligen Adolph Freiherr Knigge um Benimmregeln erweitert wurde, sind schon länger Geschichte. „Im Westen pflegen wir inzwischen den Kult der Informalität“, meint der Beobachter. Authentizität sei das Leitbild geworden. Auch in Japan wird zwar über den Verfall von Normen geklagt. „Aber das Land ist noch immer eine sehr formelle Gesellschaft, die über ein großes Repertoire an festgelegten Verhaltensweisen verfügt“, meint Pulvers.

Zwar bietet das System auch Ventile für den latenten Druck zur Konformität. „Im privaten sind die Japaner vielleicht sogar exzentrischer als die Briten“, sagt der australische Staatsbürger, der seit 1967 zwischen Australien und Japan pendelt. „Sie können im Prinzip jeden Spleen ausleben, sofern sie es nicht in der Öffentlichkeit tun oder als ihr Recht bezeichnen.“

Außerdem ist Japan bei aller Regelliebe kein Obrigkeitsstaat in dem Sinne, dass die Regierung auf die Einhaltung aller Regularien pocht. Stattdessen existieren Grauzonen. Und Japaner haben ein ausgeprägtes Gespür dafür, welche Leitfäden man hier und da ignorieren oder biegen kann. Tempolimits beispielsweise scheinen nur Hinweise zu, die man meist ungestraft um 15 bis 20 Kilometer pro Stunde übertreten kann.

Generell hält man sich allerdings in der Öffentlichkeit an die geschriebenen oder ungeschriebenen Skripte, die es für viele soziale Situationen gibt. Die von klein auf eingeübten Routinen sitzen so tief, dass Japaner selbst bei Naturkatastrophen mit tausenden Toten ruhig den Vorhaltensrichtlinien oder offiziellen Ansagen folgen.

Arbeiten wie ein Roboter - mit Hirn

Diese Kultur hat auch den beruflichen Alltag durchdrungen. Besonders ausländische Arbeitnehmer nehmen den Kontrast im Berufsleben war. „Japan ist das Land der SOPs, der ‚Standard Operating Procedures’“, sagt die chinesische Ingenieurin Liu Hongyu, die seit 20 Jahren in Japan lebt und in einem japanischen Konzern arbeitet. Dieser Begriff aus der Managementlehre beschreibt die Aufgliederung von Arbeitsprozessen in klar definierte Schritte, die am besten jeder Angestellte befolgen sollte.

Schon der Arbeitstag im Forschungslabor ihres Chemieunternehmens beginnt höchst geregelt. Um 8.30 Uhr dudelt Musik aus den Lautsprechern, um die Belegschaft zur rhythmischen Morgengymnastik zu ermuntern. Und der Arbeitsalltag wird nicht nur begleitet von Checklisten für die Bedienung von Geräten, sondern auch das Begehen von Treppen.

In ihrem Unternehmen werden die Mitarbeiter angehalten, die Hände am Geländer zu halten und rechts zu gehen, um Zusammenstöße zu vermeiden. In anderen Unternehmen werden auch schon mal Mittellinien auf die Stufen geklebt, damit die Menschen die Spur halten. Ähnliche Maßnahmen lassen sich auch in Bahnstationen finden.

Und damit die Menschen die Regelwerke auch bei sicherheitsrelevanten Routinearbeiten sklavisch einhalten, hat sich seit Beginn des vorigen Jahrhunderts das Verfahren des yubisashi kosho eingebürgert. Das bedeutet, das eine Aktion durch „Finger Zeigen und Ausrufen“ begleitet wird. Im Alltag können Japan-Besucher auch dieses mitunter lautstarke Schauspiel ebenfalls am besten in Bahnhöfen erleben.

Man stelle sich einen Zug vor der Abfahrt vor. Das Bahnsteigschaffner schaut zuerst in die eine Richtung, ob noch ein Fahrgast auf den Zug springen will. Dabei zeigt er mit dem Finger in die Blickrichtung und spricht laut aus, was er tut. Am Ende der Aktion ruft er als Bestätigung „yosh“. Dann folgt das Schauspiel auf der anderen Seite. Yosh! Erst dann gibt er den Zug zur Abfahrt frei.

Das Ziel ist, dass kein Mitarbeiter einen Schritt vergisst oder bei der stumpfsinnigen Wiederholung unachtsam wird. Aber auch mit dieser Erkenntnis bleibt diese Regeldichte vor allem im Arbeitsalltag selbst für lange in Japan ansässige Ausländer gewöhnungsbedürftig. „Es wirkt so, als ob wir wie Roboter arbeiten sollen“, meint die chinesische Ingenieurin. Aber immerhin sind es im japanischen Fall Roboter mit Hirn.

Toyota, Kaizen und der mitdenkende Mitarbeiter

Das japanische Paradebeispiel ist der Autobauer Toyota, erklärt der deutsche Experte Ditzer, der Managementtouren zu den Tempeln des Kaizen-Innovationsprozesses in Japan organisiert. Jeder Handgriff der Arbeiter am Band ist vorgeschrieben. Aber dahinter steckt ein System, das zu festgelegten Zeiten die Arbeiter ermutigt, ihren Kopf gewinnbringend einzuschalten.

Das Ziel ist klar: Es gehe Toyota darum, Fehler in der Produktion durch kontinuierliche Verbesserungen zu reduzieren und zugleich die Kosten zu senken, erklärt Ditzer. Kaizen eben. Und nach Ansicht Toyotas können Menschen dann am schnellsten Fehler finden und Verbesserungen umsetzen, wenn die Arbeit möglichst weltweit standardisiert wurde.

In Japan wird dieses Prinzip in den besten Firmen hochdiszipliniert gelebt, im Westen stößt es oft anfangs auf Widerstand, berichtet Ditzer. „Bei uns in Europa wird das ganze schnell als Einschränkung der Individualität empfunden.“ Das hat bei Besuchen von deutschen Unternehmen immer wieder erlebt, die sich in Kaizen versuchen. Doch neben dem geringeren Hang der Japaner, ihr Inneres auch im Beruf ausleben zu wollen, macht er einen anderen Faktor für die unterschiedliche Akzeptanz aus. „Ich empfinde es als größten Unterschied, dass es in Deutschland anders als in Japan oft eher einen Prozess von oben nach unten gibt, aber nicht von unten nach oben.“

Ein wichtiger Ausgleichsmechanismus für das roboterhafte Verhalten ist dabei das interne Vorschlagswesen. Mehrmals im Monat trifft sich die Belegschaft in Qualitätskreisen, um gemeinsam Prozesse zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. „Dort können die Menschen dann andere Aspekte ihrer Persönlichkeit einbringen“, sagt Ditzer, technische Fähigkeiten zum Beispiel oder Kreativität.

Dabei wissen sie aus Erfahrung, dass ihre Vorschläge nicht in der Bürokratie versanden, sondern gewünscht sind. Toyota belohnt die besten Vorschläge und setzt viele um. Das Ergebnis schildert der japanische Volksmund so: Toyota könne noch trockene Handtücher auswringen. Ditzer betont lieber den kreativen Aspekt: „Ich glaube, dass diese Einbeziehung der Menschen durch Qualitätszirkel der Grund ist, dass dieses System funktioniert.“

Allerdings hat das Vertrauen auf Checklisten auch ihre Schattenseiten. „Improvisieren gehört nicht zu den besten Talenten der Japaner“, beobachtet Marcel van Aelst, der Vizevorsitzende des japanischen Luxushotels Okura und CEO der Kette Okura Nikko Hotel Management. Der Niederländer hat seine Karriere 1970 beim Okura Hotel in Amsterdam begonnen und die SOPs im Herbergsgewerbe schätzen gelernt.

„Sie garantieren, dass Gäste immer gleichbehandelt werden“, sagt er. Komme ein Gast allerdings mit Sonderwünschen oder geschehe etwas, das nicht im Leitfaden vorgesehen ist, bräuchten Japaner oft länger als andere Nationalitäten, um eine Lösung zu finden. Aber van Aelst nimmt dies in Kauf, denn er hält das System für lernfähig. „Die Japaner addieren dann die neuen Situationen zu ihren Regelbüchern.“