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Allensbach-Chefin: „Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist bemerkenswert“

Die Stimmung der Deutschen ist historisch schlecht. Renate Köcher warnt vor den ökonomischen Kollateralschäden des Shutdowns und den psychischen Folgen von zu viel Homeoffice.

In dieser Woche dürfen kleinere Geschäfte wieder öffnen. Foto: dpa
In dieser Woche dürfen kleinere Geschäfte wieder öffnen. Foto: dpa

Das Orakel vom Bodensee wird eigentlich nicht so schnell panisch: Die Demoskopin und Allensbach-Chefin Renate Köcher hat schon zu viele Krisen erlebt und erklärt, als dass ihr Corona persönlich Angst einjagen könnte. Wachsende Sorgen aber macht sie sich nicht nur um die deutsche Wirtschaft und den Welthandel, sondern auch um die Stimmung im Land.

Immer mehr Menschen würden sich nun „bewusst, welche Kollateralschäden die Bekämpfung der Infektion fordert“. Der aktuelle Shutdown der Republik wäre „schon drei Monate lang kaum durchzuhalten, nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Schäden“.

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Die Krise führe zu völlig neuen Spaltungen im Land und verändere die Bundesbürger auch psychisch, etwa was das Arbeiten zu Hause angeht: „Die Mehrheit derjenigen, die sich zurzeit im Homeoffice befinden, zieht eine negative Bilanz in dem Sinne, dass uns gesagt wird, dass man unter diesen Bedingungen schlechter arbeiten kann als im Unternehmen.“

Mit Verwunderung nimmt Köcher zur Kenntnis, dass die Regierung aber auch dieses Sujet bald neu regeln will: „Regulierung macht offensichtlich Lust auf mehr.“ Und obwohl die Deutschen bislang klaglos alle Eindämmungsmaßnahmen mitgetragen hätten, bilanziert die Demoskopin: „Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist generell bemerkenswert.“

Lesen Sie hier das vollständige Interview

Frau Professor Köcher, zunächst eine ganz praktische Frage: Ihre Mitarbeiter fühlen den Deutschen normalerweise im Rahmen persönlicher Befragungen den Puls. Zwingt Corona die nun auch ans Telefon oder zu Internet-Fragebögen?
Face-to-Face-Befragungen sind zurzeit natürlich nicht möglich. Aber wir hatten ja auch schon vorher teilweise mit Telefon- und Online-Befragungen gearbeitet – die sind jetzt natürlich möglich. Komplexere Befragungen müssen wir zurzeit verschieben.

Ihre jüngsten Umfragen haben gezeigt: Noch bis Februar blickten die Bürger sehr optimistisch in die Zukunft. Seither ist die Stimmung offenbar so drastisch eingebrochen wie nie zuvor seit Gründung der Bundesrepublik. Sorgen die Deutschen sich eher um ihre Gesundheit oder um die Wirtschaft?
Um beides. Knapp die Hälfte fürchtet, sich selbst anzustecken, die große Mehrheit macht sich Sorgen um die Ansteckungsrisiken von Angehörigen ...

... obwohl die Krankheit ja in den allermeisten Fällen eher harmlos verläuft?
Die Menschen denken hier weniger in Wahrscheinlichkeiten, sondern stehen ganz unter dem Eindruck der Berichte über schwere Verläufe und Todesfälle. Die überwältigende Mehrheit macht sich mittlerweile aber auch große und wachsende Sorgen über die wirtschaftliche Entwicklung. In den ersten zwei, drei Wochen der Ausgangsbeschränkungen stand das Infektionsrisiko im Vordergrund. Jetzt wird immer mehr Menschen bewusst, welche Kollateralschäden die Bekämpfung der Infektion fordert.

In Ihren letzten Erhebungen zeigte sich ein Großteil der Befragten unsicher über das Bedrohungs-Potenzial, das von Sars-CoV-2 überhaupt ausgeht. Rational verständlich oder eher so ein Gefühl?
Die Mehrheit fühlt sich zwar gut informiert, traut sich aber gleichzeitig kein fundiertes Urteil über die Risikolage zu. Das ist kein Widerspruch, denn auch die Fachleute haben ja längst nicht auf alle Fragen valide Antworten. Eine andere Unsicherheit macht den Menschen aber noch mehr zu schaffen: dass man einfach nicht weiß, wie es weitergeht.

Hilft Corona womöglich zumindest dem vorher angeschlagenen Image von Kapitalismus und Marktwirtschaft? Einfach weil die Leute sehen, dass man zwar wunderbar über Exzesse schimpfen konnte, ohne funktionierende Wirtschaft aber eben gar nichts mehr geht?
Das Ansehen der Marktwirtschaft war gar nicht so angeschlagen; die Leute trennen zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus. Aber aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren hatten wirtschaftliche Ziele wie Wachstum, Wirtschaftsförderung, internationale Wettbewerbsfähigkeit oder Schuldenabbau in der Agenda der Bürger nur noch untergeordnete Bedeutung. Das wird sich gravierend verändern.

Wirklich wahr, dass sich nur im Januar 2001 beim Höhepunkt der BSE-Krise ähnlich viele Menschen persönlich bedroht gefühlt haben?
Das ist ein interessanter Punkt. Denn eigentlich lässt sich das Gefährdungspotenzial von BSE ja gar nicht mit Corona vergleichen. Entsprechend hat die Bundesregierung damals auch nur wenige Maßnahmen ergriffen, die zudem auf das Gros der Bevölkerung keinerlei Auswirkungen hatten.

Damals wurde ein Shutdown nicht mal erwogen. Warum legen jetzt, 19 Jahre später, Regierungschefs auf der ganzen Welt ihre Länder lahm angesichts eines Virus, über das man noch erstaunlich wenig weiß?
Eine interessante Frage, für die ich mich allerdings nur eingeschränkt kompetent fühle. Bemerkenswert ist in der jetzigen Situation tatsächlich, wie absolut alles in den letzten Wochen einem Ziel untergeordnet wurde: „whatever it takes“. Das ist in dieser Form neu ...

... und nachvollziehbar?
Anfangs war ja das erklärte Ziel, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen. Italien war hier ein warnendes Beispiel. Insofern waren die politischen Entscheidungen nachvollziehbar, wenn sie auch unter großer Unsicherheit getroffen werden mussten, denn die Faktenlage ist ja nach wie vor unbefriedigend. Angesichts dieser unbefriedigenden Situation ist die Reaktion der Bevölkerung bemerkenswert.

Zum Beispiel?
Der breite Rückhalt für den rigorosen Kurs, der ja nahezu ein vollständiger gesellschaftlicher Konsens war – sehr ungewöhnlich in einer freien und heterogenen Gesellschaft. Und natürlich die Disziplin der überwältigenden Mehrheit. Die Vorgaben wurden ja von vielen eher übererfüllt, als auch nur ansatzweise unterlaufen.

Wir gelten eben als pflichtbewusst und fleißig.
Das trifft es nicht ganz. Ich glaube, wir können Krise und laufen unter solchen Ausnahmebedingungen in gewissem Sinne zur Hochform auf. Die werden wir aber nicht nur für die Bekämpfung von Corona brauchen, sondern mindestens genauso für die Stabilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Der Bevölkerung wird zunehmend bewusst, welchen Preis die Bekämpfung fordert.

Sie meinen dauerhafte Ausgangsbeschränkungen und den weitgehenden Stillstand der Wirtschaft?
Das ist natürlich nur begrenzte Zeit möglich, schon drei Monate wäre der Zustand der letzten Wochen kaum durchzuhalten, nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Schäden, sondern auch wegen anderer Folgen wie beispielsweise der Verschlechterung der Chancen von Kindern, deren Eltern sich außerstande sehen, den Wegfall des Schulunterrichts zu kompensieren, der Schäden für weite Teile des Kulturlebens, das soziale Leben, die Psyche ...

Was machen die derzeitigen Ausgangsbeschränkungen mit uns?
Viele ziehen die Bilanz, dass die Krise sie psychisch sehr belastet, insbesondere Menschen aus den schwächeren sozialen Schichten. Und der großen Mehrheit fehlen die sozialen Kontakte sehr ...

... auch wenn derzeit das Hohelied aufs Homeoffice angestimmt wird?
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Es ist gegen die Natur, auf den kleinsten Kreis beschränkt zu sein. Und die Mehrheit derjenigen, die sich zurzeit im Homeoffice befinden, zieht auch eine negative Bilanz in dem Sinne, dass uns gesagt wird, dass man unter diesen Bedingungen schlechter arbeiten kann als im Unternehmen.

Weil das mit der Arbeit zu Hause aber irgendwie klappt, werden noch viele Firmen und Arbeitgeber auf die Idee kommen, sich künftig teure Büroflächen zu sparen.
Das glaube ich nicht. Natürlich gibt es Tätigkeiten, die sich für Homeoffice gut eignen, und Mitarbeiter, die damit gut zurechtkommen. Aber die persönliche Kommunikation ist in ihrem Wert nicht zu unterschätzen wie auch die Präsenz in ihrer Bedeutung für die Identifikation mit einem Unternehmen. Die jungen Firmen im Silicon Valley wissen, warum sie Homeoffice meist nicht fördern. Zurzeit hat man eher den Eindruck, dass der Staat Vorgaben für Homeoffice machen und damit in die Arbeitsorganisation der Unternehmen eingreifen möchte. Regulierung macht offensichtlich Lust auf mehr ...

Haben Sie bei Allensbach solche Umbrüche jemals erlebt, wie Corona sie jetzt provoziert?
Es gab schon auch andere gravierende Einschnitte: die Ölkrisen, 9/11, die Weltfinanzkrise 2007/2008, die Flüchtlingskrise... Aber so schnell und tief ist der Optimismus der Bevölkerung tatsächlich noch nie in sich zusammengebrochen. Das ist schon bemerkenswert.

Die Kanzlerin fürchtet nach wie vor, dass selbst leichte Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen alle epidemiologischen Erfolge der vergangenen Woche wieder zunichtemachen könnten.
Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist generell bemerkenswert. Die überwältigende Mehrheit hat in den letzten Wochen Regeln wie das Abstandsgebot verinnerlicht, und es ist auch überhaupt nicht zu erwarten, dass die Leute jetzt die Läden stürmen. Dazu ist die Stimmung viel zu schlecht.

Der Weg aus dem Shutdown wird viel beschwerlicher als der hinein?
Mit Sicherheit. Das Runterfahren allen öffentlichen Lebens war im Vergleich dazu eine relativ einfache Sache. Die schrittweise Öffnung und Überprüfung der Konsequenzen ist viel komplizierter und wird auch nicht von dem breiten Konsens getragen wie der Shutdown. Es wird jetzt auch zu einer Herausforderung, die ursprünglich weit verbreitete Panik allmählich in nüchternes Risikobewusstsein zu überführen. Wir werden wesentlich kontroversere Diskussionen sehen und gesellschaftliche Spaltungen.

Wo zum Beispiel?
Es gibt relativ große Gruppen in der Bevölkerung, deren materielle Basis durch Corona zunächst einmal nicht bedroht ist – Rentner, Staatsbedienstete, einzelne Branchen –, und auf der anderen Seite Corona-Verlierer, denen regelrecht der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, wie Gastronomie, Tourismus, Teile von Handel und Dienstleistungen oder der gesamte künstlerische Bereich.

Wer um seine Existenz fürchtet, blickt natürlich anders auf die aktuelle Situation als die, deren materielle Basis auf absehbarer Zeit gefestigt ist. Wir sehen hier auch deutliche Unterschiede zwischen den sozialen Schichten. Das gilt übrigens auch für das Thema Homeschooling: Für Kinder aus eher bildungsfernen Schichten ist das ganze Thema „Homeschooling“ eine Katastrophe.

Viele glauben noch immer, dass die Bundesregierung mit all ihren Multi-Milliarden-Programmen die härtesten Schläge wird abfedern können.
Die Programme sind hilfreich, können aber nur einen Teil der Schäden abfangen. Und auch das reiche Deutschland kommt bald an seine Grenzen. Wolfgang Schäuble hat ja gerade eindringlich darauf hingewiesen, dass der Staat einen tiefen Konjunktureinbruch nicht ausgleichen kann. Ganz zu schweigen von den mittel- und langfristigen Folgen für die Staatsfinanzen.

Sie sind auch Mitglied in dem Expertenrat, der seit kurzem Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet berät. Wie hat man sich die Arbeit dort vorzustellen?
Als regelmäßigen Austausch per Videokonferenz von Experten aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen über die aktuelle Entwicklung, die zur Verfügung stehende Datenbasis und Möglichkeiten, sie zu verbessern, sowie über die Optionen einer allmählichen Lockerung.

Mit welchem Auftrag?
Es geht um sehr praktische Probleme von ungeheurer Dimension. Alles, was die Politik tut, hat enorme Konsequenzen. Alles, was sie unterlässt, ebenso. Entsprechend wichtig ist der Beitrag ganz unterschiedlicher Disziplinen und eine offene Debatte, was an Lockerungen vertretbar ist.

Was hat Corona vielleicht schon jetzt in der Psyche der Deutschen verändert?
Die Frage kann man jetzt noch nicht beantworten. Wir sind erst seit gut fünf Wochen in einem Ausnahmezustand, auch wenn er einem schon viel länger vorkommt. Aber schon jetzt wird es nicht einfach werden, wieder das notwendige Tempo aufzunehmen, um Wirtschaft und Gesellschaft wieder in Gang zu bringen.

Welche ökonomische Bedeutung hat Corona eigentlich für Ihr Institut? Gibt es Kurzarbeit? Brauchen Sie Staatshilfen? Oder ist Allensbach gar Krisengewinner?
Unser erstes Quartal verlief noch normal. Seit April merken auch wir, dass potentiellen Auftraggebern Entscheidungen doch deutlich schwerer fallen. Viele Unternehmen verhängen zurzeit ja auch Sparprogramme, die uns teilweise ebenso treffen werden. Wie wir damit umgehen, müssen wir sehen.

Wie schützen Sie sich persönlich? Haben Sie Angst vor dem Virus?
Ich persönlich tue mich generell schwer damit, mich zu fürchten. Ich mache auch kein Homeoffice, sondern bin jeden Tag im Institut. Präsenz ist wichtig. Dass sich das Virus dort in mein Einzelbüro verirrt, ist eher unwahrscheinlich. Das Leben, das einem Großteil der Bevölkerung seit Wochen verordnet wird, entspricht sowieso dem, das ich abseits des hektischen Berufsalltags ohnehin führe.

Keine Entzugserscheinungen?
Die beruflichen Termine und persönlichen Gespräche und Diskussionen – das fehlt, im privaten Bereich eigentlich nur das Fitnessstudio. Sorgen machen mir die immensen Kollateralschäden von Corona, die mit jedem Tag größer werden. Wir dürfen nicht in eine Situation kommen, in der wir Lockerungen zurücknehmen müssen, aber wir dürfen auch nicht mögliche Lockerungen verzögern. Auch die Wirtschaft ist zurzeit ein Patient, und der ist in einem kritischen Zustand.
Frau Professor Köcher, vielen Dank für das Interview.