Österreich droht wegen Ischgl eine Sammelklagen-Flut
Tirol wurde angeblich durch Fahrlässigkeit und Amtsmissbrauch zur Virenschleuder für Europa. Touristen fordern nun Schadensersatz von der Alpenrepublik.
Der Wintersportort Ischgl ist in der Saison ein Traum in Weiß. Die mit Kunstschnee bedeckten Skipisten der Silvretta Arena sind dabei keineswegs die alleinige Hauptattraktion des Touristendorfes im Tiroler Paznauntal.
Es sind die Aprés-Ski-Bars wie das „Kitzloch“, die Ischgl europaweit populär gemacht haben. Doch der „Ballermann der Alpen“ entwickelte sich Anfang März zur Virenschleuder für Urlauber aus ganz Europa.
Tausende von infizierten Skitouristen nahmen das Coronavirus mit nach Hause. Österreich wurde so zum internationalen Virenexporteur – vor allem nach Deutschland. Die Folgen und den Schaden haben die infizierten Skitouristen bislang allein zu tragen.
Doch das soll sich nach dem Willen des Vereins zum Schutz von Verbraucherinteressen in Wien ändern. „Unser Ziel ist die Einbringung einer Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich“, sagte Peter Kolba, Chef des Verbraucherschutzvereins, dem Handelsblatt.
Die geplante Sammelklage richte sich gegen die Bundesbehörden, da auch das Tiroler Gesundheitswesen ihnen unterstehe. „Wir haben bereits 4500 Betroffene, die sich mit ihren Daten über den Aufenthalt in den Skigebieten angemeldet haben. Davon sind 2800 aus Deutschland“, berichtet der promovierte Jurist.
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Schadensersatz ungeklärt
Die betroffenen Touristen stammen aus mehr als ein Dutzend Ländern von Großbritannien über die nordischen Länder bis in die USA, Russland oder die Vereinigten Arabischen Emirate. „Drei Urlauber aus Ischgl sind bereits verstorben“, berichtet Kolba. Der Schadensersatz für die hinterbliebenen Familien sei noch nicht geklärt.
„Das Gros der Betroffenen musste sich nach ihrer Rückkehr aus Tirol in zweiwöchige Heimquarantäne begeben. Selbstständige und Unternehmer konnten dadurch nicht arbeiten“, sagt der 61-Jährige.
Eine Belegschaft einer Wäscherei in Bayern sei so stark betroffen, dass der Betrieb der Firma nicht aufrechterhalten werden konnte. „Die Menschen mit Symptomen des Coronavirus haben ein Anrecht auf Schadensersatz, der mittels medizinischer Sachverständiger festgestellt werden muss“, sagt Kolba.
Betroffene können dem Verbraucherschutzverein in Wien für einen jährlichen Beitrag von 30 Euro beitreten, der dann ihre Rechte über die Sammelklage vertritt. Die Mehrheit besitze keine Rechtsschutzversicherung.
Deshalb werde der Verein einen Prozessfinanzier in Anspruch nehmen, der bei einem Schuldspruch ein Teil der Schadensersatzsumme erhalten werde. So entstünde den Betroffenen kein finanzielles Risiko.
Vorwurf: Fahrlässigkeit und Missbrauch der Amtsgewalt
Die Vorbereitungen für die Sammelklage gegen Österreich laufen auf Hochtouren. „Bis zum Karfreitag haben uns bereits mehr als 500 Betroffene bevollmächtigt, ihre Interessen zu vertreten“, berichtet Kolba. Der frühere Nationalratsabgeordnete ist seit Jahrzehnten ein kampferprobter Verbraucherschützer.
Überregional wurde er durch seinen Einsatz für Verbraucherinteressen gegen Volkswagen im Dieselskandal bekannt. Doch eine Sammelklage gegen Österreich ist aufwendig. „Wir werden die Sammelklagen in Wien am Landesgericht für Zivilrechtssachen aber erst in einigen Monaten einbringen, da die Vorbereitung, Recherche und Prozessfinanzierung einige Zeit erfahrungsgemäß in Anspruch nehmen.“
Um den genauen Sachverhalt aufzuklären hat der Verbraucherschutzverein bereits Ende März Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck gestellt. Der Strafantrag richtet sich gegen Tirol mit seinem Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP), dem Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP), dem Bürgermeister von Ischgl Werner Kurz (ÖVP) aber auch gegen Seilbahnunternehmen wie die Silvretta-Seilbahn in Ischgl oder der Betreiberin der mittlerweile berüchtigten Bar „Kitzloch“.
In der Strafanzeige, die dem Handelsblatt vorliegt, wird die Passivität und das Ignorieren der Behörden in Österreich detailliert aufgelistet und „Fahrlässigkeit“ sowie „Missbrauch der Amtsgewalt“ diagnostiziert.
Die Tiroler Landesregierung begrüßt unterdessen die Strafanzeige des Verbraucherschutzes. „Es ist gut, dass jeder hierzu Sachverhaltsdarstellungen bei der Staatsanwaltschaft einbringen kann und dies überprüft wird“, sagte eine Sprecherin des Landeshauptmanns Platter auf Anfrage.
Der Bürgermeister von Ischgl, Werner Kurz, bestreitet jegliches Fehlverhalten. „Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen alles abgehandelt und alle Vorgaben und Vorschriften der Behörden umgehend umgesetzt“, sagte das Gemeindeoberhaupt dem ORF und der österreichischen Nachrichtenagentur APA.
Hoffnung auf Kompromiss
Der Verbraucherschützer Kolba fordert unterdessen, die Ermittlungen zu Ischgl und anderen Tiroler Skiorten mit ihrem Umgang zu Beginn der Pandemie von Innsbruck nach Wien zu überweisen. „In Tirol gibt es eine enge Verflechtung zwischen Politik, Wirtschaft und Behörden“, fürchtet Kolba.
Das Verfahren solle an die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien überwiesen werden. Ziel sei es, den Sachverhalt durch die Staatsanwaltschaft restlos aufzuklären. „Die Betroffenen wollen als Zeugen über damalige Situation in Ischgl und anderen Skiorten berichten“, sagt Kolba. Die Erkenntnisse sollen dann für die Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich genutzt werden.
Der Verbraucherschützer hofft trotz der verhärteten Fronten auf einen Kompromiss mit dem österreichischen Staat, um die in Tirol Infizierten möglichst schnell zu entschädigen. Er wünscht sich einen runden Tisch mit den Vertretern des Landes und der Republik, um eine schnelle Lösung für die Betroffenen im In- und Ausland zu erzielen. „Ein Vergleich wäre sinnvoll“, sagte Kolba. „Wir würden gerne jahrelange Prozesse für die Betroffenen vermeiden.“
Die Tiroler Landesregierung wartet die drohende Sammelklage nun ab. „Schadenersatzansprüche fußen auf gesetzlichen Grundlagen, welche von entsprechenden Expertinnen und Experten im Einzelfall geprüft werden“, sagte eine Sprecherin der Tiroler Landesregierung in Innsbruck.
Einen fahrlässigen oder verantwortungslosen Umgang mit der Pandemie in Tirol sieht die Sprecherin überhaupt nicht: „Alle Verantwortlichen haben auf Basis der zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Informationen nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen getroffen.“ Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat sich bislang aus dem Streit, um ein vermutetes Versagen der Gesundheitsbehörden in der Ferienregion herausgehalten.
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Imageschaden vs. Schadensersatzsumme
Eine Schadenersatzklage, die in erster Instanz vom Landesgericht in Wien behandelt wird, kann sich in Österreich nach Meinung von Juristen sehr lange hinziehen. Denn die Gerichtsbarkeit liegt durch die Coronakrise weitestgehend lahm.
Wie groß eine Schadenersatzsumme für die betroffenen Urlauber aus Ischgl, Galtür, St. Anton oder Sölden ausfallen kann, ist noch völlig offen. „Die untere Grenzen des Schadensersatzes für die Betroffenen in den Tiroler Skigebieten liegt bei fünf Millionen Euro“, schätzt Kolba.
Das ist im Vergleich zum Imageschaden für die Ferienregion Tirol und das Urlaubsland Österreich zweifellos eine sehr überschaubare Summe.
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